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Storytelling


In der afro-amerikanischen Jazz-Tradition wird seit jeher von den Musikern erwartet, dass sie eine „Geschichte erzählen“:

 

Deutungen

Angesichts der Bedeutung, die das „Geschichtenerzählen“ unter Jazz-Musikern hat, wird dieser bildhafte Ausdruck in der Jazz-Literatur seit Langem gedeutet, zunächst ohne viel Bedacht auf das Verständnis der Musiker zu nehmen. Bis in die Gegenwart wirkt eine Interpretation von Gunther Schuller aus den 1950er Jahren nach, der zufolge ein Solist dann eine gute „Geschichte erzählt“, wenn er sein Solo in einer für Hörer schlüssigen, überlegt wirkenden Weise aufbaut. Dieses Verständnis überträgt jedoch ästhetische Kriterien der klassischen europäischen Musik auf den Jazz und ist dementsprechend wenig zutreffend.7)

In den 1990er Jahren begann sich in der akademischen Jazz-Forschung endlich die Auffassung durchzusetzen, dass ohne die Insiderperspektive der Musiker keine sinnvollen Erkenntnisse gewonnen werden können.8) Allerdings bildet der Jazz ein weites, diffuses Feld mit entsprechend unterschiedlichen Auffassungen der Musiker selbst, worauf es beim Storytelling und auch sonst im Jazz ankommt. Nur wenige von ihnen sind tatsächlich Insider der speziellen Tradition der kreativen Meister. Auch der klassisch ausgebildete, indisch-stämmige Pianist Vijay Iyer zählte nicht zu ihnen, doch stand er mit Insidern in Kontakt und versuchte, darauf gestützt das „Geschichtenerzählen“ der Jazz-Tradition zu ergründen und darzustellen.9) Seine Überlegungen sind daher fundierter als bloße akademische Betrachtungen und ergeben unter anderem folgende zwei bedeutende Aspekte:

Iyer entwarf ein facettenreiches, allerdings auch zersplittertes Bild, das wohl nur zum Teil den starken, konzentrierten musikalischen Aussagen von Meisterimprovisatoren wie Parker und Coltrane gerecht wird. Überzeugende Erklärungen für die Ausdruckskraft Parkers und Coltranes lieferte Steve Coleman, der selbst eine entsprechende Kunst der musikalischen Sprache entwickelte und einen tiefen Einblick in die Tradition erlangte10). Im Gegensatz zu den zentralen Persönlichkeiten früherer Zeiten sprach Steve Coleman freimütig, eloquent, ausführlich und öffentlich zugänglich über seine Erfahrungen.11) Aussagen von ihm bilden daher die wichtigste Quelle der folgenden Betrachtungen zum Thema des Storytelling.12)

 

Erzählkunst

Die Spielweisen von Musikern wie Parker und Coltrane klingen großteils nach ausdrucksvollem Sprechen. Auch beziehen sich ihre Phrasen oft in gesprächsartiger Weise aufeinander, indem sie einander antworten, ergänzen und bekräftigen oder miteinander debattieren. Das Zusammenspiel der Meister mit Mitgliedern ihrer Band wirkt oft ebenfalls wie Interaktionen von Gesprächspartnern. Die stimmähnliche Klanggestaltung, speziell der Blasinstrumente13), unterstützt den sprechenden Ausdruck und mitunter bilden Phrasen sogar sprachliche Aussagen wörtlich nach. Die aufwühlende Stimme eines Predigers in einer afro-amerikanischen Kirche, ein übermütiger Wortschwall voller Ideen, ein berührendes Umwerben, ein bedrückender Erfahrungsbericht, eine prächtige poetische Schilderung, eine Aufforderung zur Erweiterung der Perspektive, besänftigende Beteuerungen … all das kann zum Beispiel in einem Saxofonspiel gehört werden. Auch mit Anspielungen, etwa auf bekannte Songmelodien oder Musikstile14), und mit musikalischer Symbolik15) wird versucht, Bedeutungen zu vermitteln.

Meister wie Parker, Coltrane und Steve Coleman „sprechen“ in einer jeweils eigenen Weise, die eine persönliche Wesensart ausdrückt. Sie beherrschen ihre „Sprache“ traumwandlerisch und kommunizieren mit ihr spontan und wahrhaftig. Der sprechende Charakter lässt ihre einzigartige Kunst, raffinierte melodische Linien zu bilden, natürlich wirken und macht sie ausdrucksstark. Diese Musiker entwickelten eine solche Flüssigkeit im musikalischen Gestalten und Agieren, dass sie im Moment komplexe sowie vollendete melodische Kompositionen hervorbrachten.

Mehr zu dieser Kunst: Improvisation

Nachdem die Meister der afro-amerikanischen Jazz-Tradition also in gewisser Weise „sprechen“ und „erzählen“, fragt sich, was ihre „Geschichten“ sind:

 

Geschichten

Auf Instrumenten ausgedrückte sprachliche Aussagen, wie sie im Jazz manchmal vorkommen16), sind nicht allgemein verständlich und können daher praktisch nur für die Musiker selbst eine Geschichte im wörtlichen Sinn ergeben. Dennoch besteht meisterhafter Jazz für zahllose Kenner in gewisser Weise aus „Storys“ mit tiefgehender Bedeutung. Diese „Storys“ werden von vielen Elementen auf mehreren Ebenen gebildet, wie nicht nur Iyer, sondern auch Steve Coleman erklärte.17) Obwohl der sprachähnliche, gesprächsartige Ausdruck in der Jazz-Tradition wichtig ist, werden die essentiellen „Geschichten“ also im Wesentlichen auf nicht-sprachliche Weise „erzählt“, sodass sie nur im übertragenen Sinn „Geschichten“ sind. In welcher Hinsicht sie mit echten Geschichten vergleichbar sind, ist den Erläuterungen der Musiker-Insider nicht zu entnehmen, doch liegt folgende Erklärung wohl auf der Hand:

Eine Solo-Improvisation stellt einen Vortrag dar, der besonders dann, wenn er auf den einstimmigen, sprachähnlich gespielten Blasinstrumenten erfolgt, einem Sprechen zu einem Kreis von Zuhörern ähnelt. Dieser Vortrag kann nur dann mit einer guten Geschichte eines Erzählers verglichen werden, wenn er von Insidern der Kultur als bedeutungsvoll, wahrhaftig und spannend erlebt wird.18) Wie der Solist eine solche Resonanz erreichen kann, muss er selbst herausfinden, denn er soll die Musikkultur mit einem eigenen Beitrag bereichern, nicht einfach Altbekanntes reproduzieren. Überzeugen kann er nur, wenn er aus seinem Innersten „spricht“. Um die Bedeutungen der Musik der Meister tiefgehend zu erfassen, braucht es Kenntnisse, die von Insidern durch allmähliche „Osmose“ erworben werden.19) Erklärungen bedeutender Musiker gewähren ein wenig Einblick in diese Erfahrungswelt.
Mehr dazu: Botschaften

Die Meisterwerke dieser speziellen Musikkultur können aber auch für Hörer im weit entfernten Europa bedeutungsvoll sein:

Diese tief bewegende Musik bildet somit intensives Leben ab, wie eine ergreifende Geschichte. Und erfährt man dazu noch ein wenig über ihre Botschaften, so steigert das die Hörerlebnisse zusätzlich – auch im fernen Europa.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Garvin Bushell/Mark Tucker, Jazz from the Beginning, 1998/1988, S. 113
  2. QUELLE: Charlie Parker interviewed by Paul Desmond, Boston Radio, 1954, transkribiert von Claire Hiscock, editiert von Mel Martin, Internet-Adresse: http://www.melmartin.com/html_pages/Interviews/bird_desmond.html, eigene Übersetzung
  3. Näheres im Artikel Unsichtbare Formen: Link
  4. QUELLE: Vijay Iyer, Exploding the Narrative in Jazz Improvisation, in: Robert G. O'Meally/Brent Hayes Edwards/Farah Jasmine Griffin [Hrsg.], Uptown Conversation: The New York Studies, 2004, S. 393-403, Internet-Adresse: http://jazzstudiesonline.org/files/jso/resources/pdf/IYER--Exploding%20the%20Narrative.pdf, eigene Übersetzung
  5. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Interviews and Information/Interviews about the Music/Steve Coleman Interviews Sean Rickman, Video ab 1:02:00 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2014, Internet-Adresse: http://m-base.net
  6. Siehe die im Artikel M-Base zitierte Aussage von Vijay Iyer: Link
  7. Näheres im Artikel Echter Jazz: Link – Vijay Iyer: Viele hätten versucht, „motivische Entwicklung“ in John Coltranes einzelnen Improvisationen als das festzustellen, was Struktur schafft. Es scheint ihm (Iyer) jedoch, dass dies bloß eine Folge einer größeren Formation ist: Coltranes „Sound“, seiner ganzheitlichen Herangehensweise, die diese Elemente hervorbringt. Das heiße nicht, dass Coltrane keinen Sinn für eine Strukturierung des Solos gehabt hätte, aber diese Art der Analyse sei mehr durch die Art der Beurteilungskriterien eines Hörers bedingt als durch den Improvisator. Als Musiker glaube er persönlich, dass der Improvisator mehr darauf konzentriert ist, einzelne Improvisationen hervorzubringen, die aufeinander und auf sein Konzept des persönlichen Sounds bezogen sind – weniger auf irgendwelche Vorstellungen von Kohärenz der einzelnen Improvisationen. (QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link) – Vijay Iyer in seinem Artikel Exploding the Narrative in Jazz Improvisation zu Gunther Schullers Aussage: Link (eigene Übersetzung)
  8. Näheres im Artikel Echter Jazz: Link
  9. QUELLE: Vijay Iyer, Exploding the Narrative in Jazz Improvisation, in: Robert G. O'Meally/Brent Hayes Edwards/Farah Jasmine Griffin [Hrsg.], Uptown Conversation: The New York Studies, 2004, S. 393-403, Internet-Adresse: http://jazzstudiesonline.org/files/jso/resources/pdf/IYER--Exploding%20the%20Narrative.pdf, Auszugsweise (eigene) Übersetzung von Iyers Artikel: Link
  10. Siehe die im Artikel Volks/Kunst-Musik zitierte Aussage Billy Harts: Link
  11. Auch in nicht-musikalischer Hinsicht erwies sich Steve Coleman als eindrucksvoller „Storyteller“.
  12. Im Einzelnen werden die Quellen in den nachfolgenden Unterartikeln angeführt.
  13. Mehr dazu im Artikel Menschlicher Sound: Link
  14. Mehr dazu in: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stellen in eigener Übersetzung: Link
  15. Zum Beispiel versuchte Steve Coleman in seinem Stück Armageddon (Album Rhythm People, Februar 1990) mithilfe zweier unterschiedlicher tonaler Gestaltungsweisen (nach dem Goldenen Schnitt beziehungsweise der Symmetrie) einen Kampf zwischen Gut und Böse darzustellen. (Näheres im Artikel Steve Colemans tonale Strukturen: Link) Am Ende des Stücks wechselt die Melodie zum Goldenen Schnitt, der das Gute verkörpern soll, und das vermittelt tatsächlich den Eindruck einer Aufhellung und Wendung zum Guten. In manchen anderen Fällen scheint eine musikalische Symbolik schwerer nachvollziehbar zu sein.
  16. Siehe zum Beispiel im Artikel Sprachkunst: Link Anker bei „Zum Teil enthielt Parkers Spiel sogar wörtliche Bedeutungen“
  17. QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, Steve Colemans Internetseite m-base.com, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  18. Die Meisterwerke des Jazz erschöpfen sich nicht in seichter Unterhaltung oder in bloßen musikalischen Konstruktionen und ästhetischen Spielen. Vielmehr weist bereits ihre Intensität auf einen starken, ernsthaften Ausdruckswillen hin. Sie sind keine Kunstvorführungen in der Art der „Moderne“, die das Publikum zu neuen Betrachtungsweisen und Einsichten anzuregen versuchen, und auch keine politischen Kundgebungen oder dergleichen. Sie beschränken sich nicht auf bestimmte Themen oder Anliegen und belehren nicht, sondern stellen einfach dar, als würden sie „erzählen“. Vor allem zeigen sie die Meister selbst in Aktion und Kommunikation, mit brillantem Spiel und ausgeprägtem eigenem Charakter. Ihre jeweilige musikalische Persönlichkeit hat über einen längeren Weg Gestalt angenommen und entwickelt sich weiter, sodass die Musik der Meister einen Prozess repräsentiert, vergleichbar mit einer Lebensgeschichte. Die Musiker sind in ihre Kultur eingebunden, die afro-amerikanische Identität und kollektive Erfahrung widerspiegelt. Auch insofern erzählt ihre Musik eine Geschichte.
  19. Siehe zum Beispiel in den Artikeln Steve Coleman über Vibe und Billy Hart Interviews: Link, Link

 

 

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