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JAZZ ESSENZ – 18. Lässigkeit


Der Tenor-Saxofonist Lester Young war für seine eigenwillige, kreative Art zu sprechen bekannt. Er sagte zum Beispiel: „Es ist alles cool“. Die heute übliche Verwendung des Wortes „cool“ scheint weitgehend auf ihn zurückzugehen. Ein Musiker-Kollege, John Lewis, berichtete, dass solche Sprechweisen und auch Lester Youngs schicker Kleidungsstil unter Afro-Amerikanern weit verbreitet waren. Das sei alles Teil einer gewissen Art hip zu sein gewesen. – Lester Young wurde mit 11 Jahren seiner Mutter entrissen, um seine ganze Jugendzeit mit einer umherziehenden Minstrel-Gruppe zu verbringen und dabei war er immer wieder Gewalt ausgesetzt. Das machte ihn zu einem sensiblen, introvertierten jungen Mann. Daher sprach ihn der feinere, zartere Ton „klassisch“ beeinflusster Saxofonisten an und er integrierte diese Art in seine eigene Spielweise. Bevor in Jazz-Bands Mikrofone üblich wurden, hatte Lester Young mit seinem leichten Saxofon-Ton Schwierigkeiten, ausreichend gehört zu werden, aber dann wurde er damit sehr beliebt. Der schlanke Ton war allerdings nur ein Teil seines breiten Ausdrucksspektrum, das vom Blues-Einfluss der vielen Jahre in rauen Minstrel-Shows geprägt war. Und bestechend war sein Spiel vor allem durch die locker fließenden Melodie-Linien. Sein lässiger Stil spiegelte sehr direkt seine persönliche Art, seine Lebenserfahrungen und seine Herkunft wider. Er wurde von unzähligen Musikern verehrt und nachgeahmt, aber wirklich entspannt fühlte er sich im wenig gebildeten Milieu, aus dem er kam.1)

          HÖRBEISPIEL: Count Basie: Oh, Lady Be Good (1936)

Das war eines der hübschen Soli, die Lester Young in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als Mitglied der Count-Basie-Band spielte. Louis Armstrongs kreativste Phase war damals bereits vorüber. Die spaßige Rolle, die er im Showgeschäft spielte, wurde von Afro-Amerikanern zunehmend als peinlich empfunden. Sieht man sich seine Lebensgeschichte und die rassistischen Verhältnisse im Showgeschäft seiner Zeit näher an, dann erscheint es jedoch als durchaus geschickt, wie Louis Armstrong agierte, um nicht in die Armut zurückzufallen, aus der er gekommen war. Die clownhafte Rolle ermöglichte es ihm auch, unangepasst zu bleiben und seinen Spaß zu haben. Nachdem er 1946 in der altehrwürdigen Carnegie Hall auftreten konnte, schrieb ein Jazz-Kritiker enttäuscht, Louis Armstrong habe das Ereignis völlig falsch eingeschätzt, dumme Witze erzählt und seine Show abgezogen. Aber Armstrong machte sich nun einmal nichts aus spießiger Kultiviertheit. Dabei war er keineswegs das unbedarfte Naturtalent, für das er gehalten wurde. Er hatte sich mithilfe älterer Musiker seiner Subkultur ohne Musiktheorie zum Musiker entwickelt, verschaffte sich dann sehr wohl theoretische Kenntnisse, nutzte sie jedoch im Sinn seiner Herkunftskultur. Seine berühmten Aufnahmen der 1920er Jahre wurden für die armen afro-amerikanischen Leute gemacht und die liebten sie. Louis Armstrong war intelligent und er brachte – soweit es möglich war – die Subkultur der Nachfahren der Sklaven in die Unterhaltungsmusik. Aus dieser Subkultur stammt der eigenständige Charakter des Jazz.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: Dinah (1930)

Duke Ellingtons erste ausgereifte Aufnahmen entstanden ebenfalls in der zweiten Hälfte 1920 Jahre. Im Gegensatz zu Louis Armstrong wurde er aber nicht als Solist bedeutend, sondern als Orchesterleiter. Geschickt nutzte er die Subkultur, aus der Louis Armstrong kam, unter anderem, indem er Solisten einsetzte, die diese ausdrucksstarke Kultur mitbrachten, zum Beispiel den Trompeter Bubber Miley.

          HÖRBEISPIEL: Duke Ellington: East St. Louis Toodle-Oo (1927)

Die Beiträge der Solisten verwob Duke Ellington so mit seinen eigenen Ideen, dass ein gemeinschaftliches Werk entstand, das doch unverkennbar seinen persönlichen Stil und Charme hatte. Er war stolz auf seine afro-amerikanische Identität und verstand seine Musik als Abbild des Lebens und der Kultur seines Volkes. Mit einigen stärker durchkomponierten Werken wollte er sich als Komponist „jenseits der Kategorien“ Gehör verschaffen. Doch erkannte ihn der „klassisch“ orientierte Kulturbetrieb nie an und Jazz-Anhänger schätzten mehr seine Aufnahmen mit starkem Jazz-Charakter, besonders die aus den frühen 1940er Jahren. Diese Musik swingt fabelhaft und ist viel kunstvoller und farbenprächtiger als die Musik der Bigbands, die in der damaligen Swing-Ära dominierten.2)

          HÖRBEISPIEL: Duke Ellington: Rockin' In Rhythm (1940, Fargo)

Duke Ellington lenkte sein Orchester großteils mit seinem Klavierspiel. Es beruhte auf der alten Ragtime- beziehungsweise Stride-Piano-Tradition, war aber harmonisch bereits weit fortgeschritten. Der überwältigende Meister des Klavierspiels war jedoch Art Tatum, der über eine glänzende Technik verfügte und vor Ideen sprühte. Nicht nur Pianisten, sondern unter anderem auch Charlie Parker, John Coltrane und in neuerer Zeit Steve Coleman bewunderten seine Kunst. Im Grunde genommen interpretierte er lediglich populäre Songs, Stücke aus der so genannten „leichten Klassik“, ein wenig Boogie-Woogie und Blues. Doch ließ er die Stücke in ständig neuen harmonischen und rhythmischen Fassetten schillern. Er hatte sich das Klavierspielen größtenteils selbst beigebracht, nicht anhand von Noten, denn er war fast völlig blind, sondern durch Radio- und Schallplatten-Hören, Nachahmen und Experimentieren, was sein Gehör und sein Gedächtnis sehr trainierte. Schließlich war er als Klaviervirtuose auf Konzertbühnen gefragt. Lieber spielte er aber nächtelang in schäbigen Kneipen unter Insidern auf verstimmten Klavieren. Musste er auf kein Publikum Rücksicht nehmen, dann improvisierte er kühn und klang mitunter regelrecht avantgardistisch.3)

          HÖRBEISPIEL: Art Tatum: After You've Gone (1950)

Im Gegensatz zu späteren Pianisten löste sich Art Tatum nicht völlig von der Songmelodie, sondern umkreiste sie laufend. Das entsprach der Stride-Piano-Tradition, aus der er kam. Die immer wieder anklingende Songmelodie begleitete die Hörer unterhaltsam durch Art Tatums berauschende Kunst.4)

          HÖRBEISPIEL: Art Tatum: Taboo (1953)

Art Tatums Klavierstil war nicht auf Dialog mit anderen Musikern ausgerichtet. Zwar machte er auch Aufnahmen mit Band, doch kommt sein Spiel am besten zur Geltung, wenn er alleine zu hören ist. Hin und wieder spielte er längere, fließende Melodie-Linien, was in der Stride-Piano-Tradition nicht üblich war. Das Schwergewicht seiner Kunst lag jedoch noch eindeutig auf der harmonischen und rhythmischen Gestaltung. Letztlich stehen im Jazz aber ausdrucksstarke melodische Linien und das Zusammenspiel mit einer Band an oberster Stelle. Deshalb erlangte Art Tatum trotz seiner überragenden Meisterschaft keine so zentrale Bedeutung wie Louis Armstrong und Charlie Parker.5)

Ein Saxofonist spielte lange mit Art Tatum zusammen, lernte von ihm und entwickelte sich so zu einem der angesehensten Tenor-Saxofonisten der ersten Hälfte der 1940er Jahre: Don Byas. In dieser Zeit fand in einer Kneipe Harlems ein inoffizieller Wettkampf der führenden Tenor-Saxofonisten statt – unter anderem mit Coleman Hawkins, Lester Young, Chu Berry und Ben Webster. Don Byas soll eindeutig als Sieger hervorgegangen sein.6) Wie fortschrittlich seine Harmonik bereits war, zeigt zum Beispiel folgende Aufnahme.7)

          HÖRBEISPIEL: Don Byas: I Got Rhythm (1945)

Die Kunst der melodischen Gestaltung wurde dann vom Alt-Saxofonisten Charlie Parker auf ein extrem hohes Niveau gebracht. Er war seit seiner Jugendzeit Heroin-süchtig, lebte deshalb in furchtbarem Chaos und starb mit 34 Jahren an den Folgen der Sucht. In völligem Gegensatz zu diesem erschütternden Lebenslauf klingt sein Saxofonspiel so leicht, brillant und beflügelnd, dass es der Bassist Charles Mingus als den „Inbegriff des Klang gewordenen Optimismus“ bezeichnete. Charlie Parker war eine komplexe, intelligente Persönlichkeit, die sich freizügig zu entfalten versuchte. Ein Musikerkollege erzählte, dass sich Charlie Parker in einer Pause hinter dem Jazz-Klub, in dem er auftrat, auf einer umgeworfenen Mülltonne hin und her wälzte – einfach, weil er es anregend fand, ungewöhnliche Dinge zu tun. Und es gibt noch wesentlich krassere Geschichten über sein exzentrisches Verhalten und seine ausschweifenden Genüsse. Seine Lebensbedingungen am Rande der Gesellschaft gaben seinem Freigeist wenig Chance, eine lebenserhaltende Balance zu finden. Zurück ließ er Musik voller wunderbarer Lebendigkeit.8)

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Now’s the Time (1949)

Charlie Parkers Freund, der Trompeter Dizzy Gillespie spielte bei gemeinsamen Auftritten sein Solo meistens nach ihm, denn zuerst Charlie Parker zuzuhören inspirierte ihn.9) Dizzy Gillespie geriet nicht in die Drogenfalle und organisierte seine Laufbahn geschickt. Aber auch er agierte ausgeflippt, wie schon sein Spitzname „Dizzy“ (schwindlig) sagt. Er fand, dass Jazz aus dem Bauch heraus geschwitzt werden muss10), war einer der virtuosesten und innovativsten Trompeter der Jazz-Geschichte und liebte Rhythmus, Tanz und Spaß.

          HÖRBEISPIEL: Dizzy Gillespie: Oop-Pop-A-Da (1947)

Dizzy Gillespie spielte die Trompete mit aufgeblasenen Backen, die sich im Laufe der Jahre wie ein Luftballon zu dehnen begannen. Das ist nach europäischer Lehre falsch. Er hatte sich das Musizieren größtenteils selbst beigebracht11) und dabei seine eigene Art entwickelt, die sich in seiner Musikkultur bestens bewährte. Sein gleichaltriger Kollege, der Pianist Thelonious Monk, hatte ebenfalls eine eigenwillige Technik. Er schlug die Klaviertasten nicht (wie in der „klassischen“ Musik üblich) mit gekrümmten, sondern flach ausgestreckten Fingern an, und zwar ausgesprochen fest – ein wenig, als würde er trommeln, und er bewegte sich dabei, als wäre sein Klavierspiel ein Tanz. „Wenn du swingst, swing ein bisschen mehr“, sagte er. Sein Groove war funky und sein starker Anschlag entfaltete das ganze Klangspektrum seiner Akkorde. Er packte sie kunstvoll mit dissonanter Reibung voll, aber auch mit Wohlklang. John Coltrane nannte ihn einen „musikalischen Architekten höchsten Ranges“, und der Pianist Vijay Iyer bezeichnete ihn als „Architekten des Gefühls“, denn Thelonious Monk verstand es, mit prallen Klängen und eindringlichen Melodien eine starke emotionale Wirkung auszulösen. Er hat die Gestaltung von Klängen und Melodien in fundamentaler Weise auf dem Klavier erforscht und entwickelt. Sein einzigartiger Stil drückte sein sehr individuelles Wesen aus, das sich auch in ausgefallenem Outfit und merkwürdigem Verhalten äußerte.12)

          HÖRBEISPIEL: Thelonious Monk: In Walked Bud (1958, Five Spot)

Thelonious Monks Hingabe an die Musik, die alles andere nebensächlich machte, war Vorbild für den jungen Tenor-Saxofonisten Sonny Rollins.13) Später sagte Rollins, es gehe in der Improvisation darum, zu einer tief im Inneren verborgenen, spirituellen Wahrheit zu gelangen.14) Er wuchs im New Yorker Stadtteil Harlem auf, dem damaligen Zentrum afro-amerikanischer Jazz-Kultur, und erlebte dort schon als Kind die großartigen Bigbands von Duke Ellington, Count Basie und so weiter. Er brachte sich das Spielen im Wesentlichen selbst bei15), kam früh mit vielen bedeutenden Musikern in Kontakt und konnte mit ihnen spielen, unter anderem mit den Pianisten Bud Powell und Thelonious Monk und auch mit Charlie Parker. Zu all den musikalischen Erfahrungen kam, dass Sonny Rollins von klein auf mit dem Kampf der afro-amerikanischen Minderheit um Gleichberechtigung vertraut war. Seine Großmutter nahm ihn als Kind zu Demonstrationen mit. Sie war eine Anhängerin des politischen Führers Marcus Garvey, der im Hintergrund des Jazz eine größere Rolle spielte, als üblicherweise wahrgenommen wird.16) Ende der 1950er Jahre war Sonny Rollins dann der erste Jazz-Musiker, der mit seiner Musik Forderungen der damaligen Bürgerrechtsbewegung verband. Es brachte ihm allerdings solche Schwierigkeiten ein, dass er es als zwecklos erkannte und künftig gesellschaftskritische Äußerungen vermied.17) Die Forderung von Respekt vor den Rechten und der Kultur der afro-amerikanischen Minderheit war nur mehr unausgesprochen in seiner cleveren, hippen Musik enthalten.

          HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: Tune Up (1957)

Im Gegensatz zu Sonny Rollins kam der 4 Jahre ältere John Coltrane aus einer ländlichen Kleinstadt und gelangte erst über Umwege in das Zentrum des Jazz. Als Saxofonist entwickelte er einen unverkennbaren persönlichen Stil mit unübertrefflicher Ausdruckskraft. Und mit seiner Band schuf er eine fortgeschrittene Form von Jazz, die für viele nachfolgende Musiker richtungsweisend wurde. Seine Musik war vor allem Ausdruck tiefgründiger Wahrhaftigkeit und spiritueller Suche18), mit einer spezifisch afro-amerikanischen Sicht19). John Coltrane war ein ausgesprochen ruhiger, besonnener, friedfertiger Mann und auch seine Musik wirkt trotz aller Intensität absolut nicht aggressiv, aber doch wie eine Kampfkunst voller Gewandtheit, Raffinesse und Eleganz. Sie erscheint wie eine leidenschaftliche Darstellung des Lebens selbst.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Mr. P.C. (1963, Stockholm)

John Coltrane wurde in den 1950er Jahren als Mitglied der Miles-Davis-Band bekannt. Nach seinem Ausscheiden aus der Band wollte Miles Davis den Tenor-Saxofonisten Von Freeman als Ersatz engagieren. Der blieb aber aus familiären Gründen in seiner Heimatstadt Chicago.20) Von Freeman behielt zeitlebens das traditionelle Fundament der Musik bei. Insofern war er nicht so innovativ wie John Coltrane in den 1960er Jahren21) und er hatte auch nie eine so großartige Band wie Coltrane. Aber als Saxofonist, als Improvisator gelangte Von Freeman auf das allerhöchste Niveau, und zwar mit einem sehr persönlichen, extrem ausdrucksstarken Stil. Er war Teil einer Jazz-Subkultur, in der es nicht genügte, technisch versiert und künstlerisch anspruchsvoll zu spielen, sondern Hörer in einer speziellen, vom Blues geprägten Art berührt werden mussten.22) In seinem Umfeld hatte Von Freeman eine Anhängerschaft, die ihm bei seinen abenteuerlichen Improvisationen folgte. Der junge Steve Coleman kam mit ihm in Kontakt und als er einmal eingeladen wurde, in Von Freemans Band mitzuspielen, bemühte er sich zunächst, sein Saxofon genau zu stimmen, wozu er eine ganze Weile brauchte. Von Freeman sagte schließlich: „Stimm‘ nicht zu viel, Baby, sonst verlierst du deine Seele!“ Coleman verstand nicht, was Freeman meinte. Später fiel ihm auf, dass er Meister wie Freeman nie stimmen sah. Offenbar passten sie die Tonhöhe ihres Instruments während des Spielens an. In ihrer Musik war die Tonhöhe ziemlich variabel und das wurde – zusammen mit Klangfarben – genutzt, um Seele (Soul), Gefühl auszudrücken.23) Von Freeman machte davon ausgiebig Gebrauch. Geschulte Musiker fanden, er spiele falsche Noten.24) Aber für Kenner ist sein Ausdruck großartig25) und er versetzte auch europäische Hörer in Begeisterung.

          HÖRBEISPIEL: Von Freeman: I'll Close My Eyes (1977, Niederlande)

Ein beträchtlicher Spielraum besteht in dieser Musikkultur nicht nur in der Tonhöhe, sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Nachdem Steve Coleman als 21-Jähriger nach New York übersiedelt war, wurde er Mitglied der Thad Jones/Mel Lewis-Bigband und setzte anfangs immer viel zu früh ein. Denn er begann auf das Zeichen des Bandleaders zu spielen, der Rest der Band hingegen mit einer deutlichen Verzögerung. Diese Bigband spielte mit dem zurückgelehnten Feeling, das Steve Coleman auch im Spiel von Elvin Jones, Dexter Gordon und so weiter hörte.26) In dieser Jazz-Tradition hat die gesamte musikalische Gestaltung einen lockeren, lässigen Charakter.27)

Auch in harmonischer Hinsicht spielen die Meister mit viel Gestaltungsfreiraum. Von Freeman erklärte dem jungen Steve Coleman, er lerne bei einem neuen Song lediglich die Songmelodie und das, was der Bass dazu spielt, also im Grunde genommen einfach zwei Melodien, keine Akkorde. Aus den beiden Melodien ergeben sich vielfältige harmonische Möglichkeiten und die nutzte er freizügig in seiner melodischen Improvisation. Steve Coleman übernahm dieses Konzept. Ein ähnliches fand er später in der alten europäischen Musik – den Cantus Firmus, eine festgelegte Melodie, zu der weitere Melodien gebildet wurden. Steve Coleman erkundete die unterschiedlichen Modelle in der Musikgeschichte, von der Antike bis in die Gegenwart, und er beschäftigte sich eingehend mit der melodischen Wirkung der verschiedenen Ton-Kombinationen.28)

Wie Klänge, Melodien und Rhythmen wahrgenommen werden, hängt natürlich stark vom kulturellen Hintergrund der jeweiligen Person ab. Der Trompeter Nicholas Payton wurde in einem Interview zu Steve Colemans großem Einfluss auf jüngere Musiker gefragt und er sagte: In Steve Colemans Musik sei die afro-amerikanische Tradition, aus der er kommt, sehr greifbar. Er bringe damit einen grundlegend anderen Zugang mit als viele seiner Nachfolger, die seine Musik analysieren. Was sie aus ihr ableiten, sei ähnlich wie das, was die Musikschulen aus Charlie Parkers Musik machen. Viele heutige Musiker würden eine Menge Noten mit komplizierten Rhythmen spielen, die ihn kalt lassen. Solche Musik wolle er nicht hören.29)

Ich mochte schon in jungen Jahren lateinamerikanische Rhythmen, funkige Musik und später Jazz. Deshalb begann ich mich für afro-amerikanische Kultur zu interessieren und für die Leute, die sie hervorgebracht haben. Dieses Interesse und die wachsende Sympathie für sie verstärkten wiederum meine Vorliebe für ihre Musik und das wirkte sich im Laufe der Zeit auf mein Musik-Empfinden aus. So sprach mich Steve Colemans Musik auf der Stelle an.

          HÖRBEISPIEL: M-Base Collective: Anatomy of a Rhythm (1991)

Charlie Parker sagte: „Die Musik ist deine eigene Erfahrung, deine eigenen Gedanken, deine Weisheit. Wenn du es nicht lebst, wird es nicht aus deinem Horn kommen.“30) Ich denke, Entsprechendes gilt auch für die Hörerseite: Um Zugang zu dieser faszinierenden Musik zu finden, ist eine gewisse Offenheit und Lockerheit notwendig. Wenn du es nicht lebst, wird es nicht in deine Ohren gehen. Man beginnt es allerdings bereits zu leben, sobald man sich für diese Musik öffnet.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: All The Guards There Are (1993)

 

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  10. Quelle: Dizzy Gillespie/Al Frazer, To Be Or Not To Bop. Memoiren, deutschsprachige Ausgabe, 1984/1979, S. 296f.
  11. Quelle: Dizzy Gillespie/Al Frazer, To Be Or Not To Bop. Memoiren, deutschsprachige Ausgabe, 1984/1979, S. 20-44
  12. Näheres zu Thelonious Monk: Link und Link
  13. Quelle: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 1991, S. 13f.
  14. Näheres: Link
  15. Quelle: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 1991, S. 12
  16. Näheres: Link
  17. Näheres: Link
  18. Näheres: Link und Link
  19. Siehe zum Beispiel folgende Aussagen von Vijay Iyer: Link
  20. Näheres: Link
  21. Näheres: Link
  22. Näheres: Link
  23. Näheres: Link
  24. Näheres: Link und Link
  25. Siehe zum Beispiel: Link
  26. Näheres: Link
  27. Näheres: Link
  28. Quelle: Steve Colemans Video-Konferenzen mit Mitgliedern seiner Internet-Plattform M-Base Ways am 8. und 28. September 2020
  29. Quelle: The Complete Nicholas Payton Interview With Richard Scheinin, 8. Oktober 2013, Internet-Adresse: https://nicholaspayton.wordpress.com/2013/10/08/the-complete-nicholas-payton-interview-with-richard-scheinin/
  30. Näheres: Link

 

 


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