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Rhythmus-Wahrnehmung


Groove kann auf vielschichtige Weise Gefühl und Verstand ansprechen. Er kann einerseits kompliziert ineinander verwobene Strukturen enthalten, die Erfahrung brauchen, um richtig erfasst zu werden. Andererseits spricht Groove-Musik stets in der „Sprache“ unseres Körpers – sie ist ja Tanzmusik oder kommt von Tanzmusik her.



Körperrhythmen – musikalische Rhythmen

Viele Funktionen des Körpers laufen rhythmisch ab – viele unwillkürlich (zum Beispiel der Herzschlag), manche willentlich (zum Beispiel das Gehen). Für den rhythmischen Ablauf sorgen Taktgeber im Nervensystem. Der Taktgeber der Motorik (Bewegungssteuerung) ist auch für das Empfinden von musikalischen Rhythmen entscheidend. Er gibt nicht nur den Puls vor, wenn man einen Rhythmus selbst erzeugt, sondern auch das Hören von Rhythmen funktioniert mithilfe der Motorik: Man kuppelt in den gehörten Rhythmus ein, indem man den inneren Taktgeber mit ihm synchronisiert, sodass der gehörte Rhythmus unbewusst als vorgestellte Körperbewegung wahrgenommen wird.1) Dieses Einkuppeln bewirkt somit ein geradezu körperliches Erleben des musikalischen Pulses. Das ist jedoch nur möglich, weil die Frequenzen der Musik (nicht zufällig) im Bereich der Frequenzen der Körperbewegungen liegen. Die folgende Tabelle zeigt Zusammenhänge zwischen Musik- und Körperrhythmen sowie auch die entsprechenden Zeitspannen des Gedächtnisses:

Musik:

Körperbewegung:

Gedächtnis:

 
 „Tatums”2)

 ca. 80 – 150 ms

----------------------
 Tactus3)
 ca. 300 – 800 ms


----------------------
 Zyklus4), Phrase
 ca. 1 – 10 sec

 

 
 Sprech-,
 Zungenbewegungen,  Handgesten
-----------------------------
 Herzschlag, Gehen und  Laufen, Saug- und  Kaubewegungen,  Geschlechtsverkehr
-----------------------------
 Atmen, Körper-  schaukeln

 


 Echo-  gedächtnis  unter 1  Sekunde


-----------------
 Arbeits-,  Kurzzeit-
 gedächtnis
 ca. 30 sec.

ms = Millisekunden (1000 ms = 1 Sekunde), sec = Sekunde

Das Einkuppeln in einen Puls erfolgt vor allem im Bereich des Tactus. Dieser Bereich entspricht ungefähr der Dauer des Echogedächtnisses. Aus diesem Zusammenhang lässt sich die unmittelbare Wirkung des Pulses in der Musik ebenfalls erklären: Für eine ganz kurze Zeit (unterhalb einer Sekunde) hat man Sinneseindrücke noch in ihrer ganzen Gestalt direkt vor sich. Es ist, als würden die Töne in dieser kurzen Zeit nachklingen. Das Ultrakurzzeitgedächtnis, das dieses Nachklingen bewirkt, wird daher auch als Echogedächtnis bezeichnet. Im Echo eines Pulsschlages ertönt der nächste Pulsschlag und so sind die aufeinander folgenden Pulsschläge kurze Zeit beide mit ihrem Klang präsent – man erlebt sie also in plastischer Weise als miteinander verbunden.5)

Deutlich über die Dauer der Echo-Erinnerung hinaus geht der Rhythmus des Atmens, der ebenfalls große Bedeutung in der Musik hat: Nicht nur beim Gesang und bei Blasinstrumenten, sondern allgemein entsprechen Phrasen oft ungefähr der Atemfrequenz. Es gilt häufig als kunstvoll, wenn Musik „atmet“. Die Nähe zum Atemrhythmus ergibt sich auch über die Sprache: Das Sprechen fließt im Rhythmus des Atmens und viele musikalische Phrasen (insbesondere in den Jazz-Improvisationen) haben den Charakter eines Sprechflusses.

 

Rhythmische Strukturierung

Die Wahrnehmung neigt dazu, zum Beispiel aus einem gleichförmigen Ticken ein „Tick-Tack“ zu machen. Das heißt, man gruppiert jeweils 2 Ticks zu einem Paar und betont zum Beispiel das erste „Tick“. So wird ein „o o o o o o …“ zu einem „óo óo óo óo ...“. Diese so genannte „subjektive Rhythmisierung“ tritt vor allem im Frequenzbereich des Tactus auf6)und dürfte mit folgender grundlegenden Funktionsweise des Hörens zusammenhängen: Es ist eine große Leistung der Wahrnehmung, dass sie das Gehörte sofort aufsplittet und die Klänge/Geräusche so zusammensetzt, dass daraus unterscheidbare „Streams“ (Ströme) entstehen.7) So hört man zum Beispiel nicht bloß ein undifferenziertes Gemisch aus Brummen, Quietschen und so weiter, sondern voneinander getrennt das Brummen eines vorbeifahrenden Autos, zugleich das Quietschen einer Türe und das Zwitschern eines Vogels. Das Hören ist also darauf ausgerichtet, den Schall so zu strukturieren, dass man verstehen kann, was um einen herum geschieht. Auf die große Bedeutung des Strukturierens ist zurückzuführen, dass man in einem gleichförmigen Puls mitunter Strukturen hört, die eigentlich gar nicht vorhanden sind, zum Beispiel „Tick-Tacks“, obwohl nur gleichförmige „Ticks“ erklingen.

Besonders wichtig ist das Strukturieren für das Erfassen eines zeitlichen Ablaufs, der über das Echogedächtnis hinausgeht. Denn nach spätestens einer Sekunde hat man die Klänge nicht mehr als Echo im Ohr, sondern kann sie nur mehr mit dem Arbeitsgedächtnis in der Erinnerung behalten. Das Arbeitsgedächtnis kann aber nur wenige Informationen erfassen (7 +/- 2 Inhalte)8) und es muss daher aus dem Gehörten die wichtigsten Informationen herausfiltern. Je besser sich daraus eine Struktur fügen lässt, desto mehr kann vom Gehörten behalten und weiterverarbeitet werden. Zum Beispiel lässt sich die Zahl 1914191819391945 in dieser Form kaum merken. Gruppiert man sie aber auf folgende Weise und erkennt die Bedeutung ihrer Teile, ist es nicht schwierig: 1914 1918 1939 1945.9) Ein solches Gruppieren von Informationen zu höherstufigen Inhalten wird „Chunking“ oder „Clustering“10) genannt. Auf diese Weise baut die Sprache mithilfe von Buchstaben, Worten, Phrasen, Sätzen und so weiter komplexe und doch erfassbare Gebilde auf. Ähnlich geht die Musik vor. Vor allem nicht zu lange Zyklen ermöglichen es, Rhythmen eine über die Zeitspanne des Echogedächtnisses hinausgehende, nachvollziehbare Struktur zu verleihen.

 

Zyklus

In der Regel werden zwei bis acht Beats des Tactus zu einer Gruppe zusammengefasst, sodass es Zyklen bildet, die zwischen 800 Millisekunden und 5 Sekunden lang sind. Längere Zyklen kann man in der Regel nicht ohne zu zählen erfassen. Die Länge der üblichen Zyklen überschreitet also den Rahmen des Echogedächtnisses, liegt jedoch innerhalb der so genannten „psychologischen Gegenwart“.11) Mit diesem Begriff ist eine kurze Zeit gemeint, die man als momentanes Geschehen im Ganzen erlebt. Es gibt allerdings ziemlich unterschiedliche Annahmen über die Dauer der „psychologischen Gegenwart“ (von 1,5 bis 5 Sekunden). Möglicherweise hängt sie von der Anzahl der erklingenden Töne ab.12) Jedenfalls liegt sie im Bereich des Arbeits/Kurzzeitgedächtnisses.

Zyklen geben den Rhythmen eine Struktur und Bedeutung, die über ein bloßes Einkuppeln in den Puls hinausgeht. Komplexe Groove-Musik kann auf diese Weise eine große Kunst des Spiels mit Bewegungsabläufen entfalten und dabei durch Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit ein reichhaltiges Reservoir an Anregungen für (tatsächliche oder bloß gefühlte) Bewegungen bereitstellen.

Größere Strukturen als die metrischen Zyklen ergeben kein Rhythmusempfinden und werden daher zur musikalischen Form gezählt.13)

 

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  1. QUELLEN: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link; Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 2002, S. 213
  2. zu diesem Begriff im Artikel Puls und Mehrschichtigkeit: Link
  3. zu diesem Begriff im Artikel Puls und Mehrschichtigkeit: Link
  4. zu diesem Begriff im Artikel Puls und Mehrschichtigkeit: Link
  5. QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  6. QUELLE: Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 2002, S. 216
  7. QUELLEN: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 57; Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 2002, S. 49
  8. QUELLE: Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 2002, S. 117
  9. Es sind die Jahreszahlen von Beginn und Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Dieses Beispiel führte Manfred Spitzer in seinem Buch Musik im Kopf, 2002, S. 131, an.
  10. QUELLE: Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 2002, S. 131
  11. QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  12. QUELLE: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 63
  13. QUELLE: Martin Pfleiderer, Rhythmus, 2006, S. 154

 

 

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