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Eigene Sache


Der im Jahr 2006 erschienene Film Play your own thing. Eine Geschichte des Jazz in Europa1) enthält eine Reihe fragwürdiger Darstellungen, vor allem ist jedoch merkwürdig, dass er seine Werbung für europäischen Jazz in gewisser Weise selbst untergräbt:

Einerseits stellt er die belebende, befreiende Wirkung dar, die der aus Amerika herüberkommende Jazz auslöste. Es sind alte Aufnahmen von Meistern wie Duke Ellington, Louis Armstrong, Ben Webster, Bud Powell, Dizzy Gillespie und Miles Davis zu sehen. Ältere Europäer schwärmen vom überwältigenden Eindruck, den diese Musiker hinterließen. Der afro-amerikanische Tenor-Saxofonist Dexter Gordon schlendert in seiner lockeren, lässigen Art durch Kopenhagen in einen Jazz-Klub, um dort zu spielen. Seiner Band gehört der Däne Niels-Henning Ørsted Pedersen an und dessen Bass-Solo führt vor Augen, wie intensiv sich junge Europäer mit dieser Musikkultur verbanden.

Im Gegensatz zur vitalen afro-amerikanischen Jazz-Tradition zieht sich der europäische Jazz mit einer schwunglosen, oft bedrückenden Atmosphäre und viel mühsamem Kunstanspruch wie ein Brei durch den Film. Das beginnt gleich am Anfang des Films mit Aufnahmen des damals bereits über 80-jährigen deutschen Gitarristen Coco Schumann, den man in seiner düster wirkenden Wohnung seine Gitarre stimmen sieht. Schumann wirkt sympathisch, aber altersbedingt behäbig. Jan Garbarek hört man mit ganz ruhiger Stimme sagen: „Niemand kann wie Charlie Parker spielen, obwohl es hunderte und tausende Musiker versuchten – so zu leben wie er, seine Phrasen zu spielen, so frei, schnell und bestechend wie er. Aber man hat keine Chance. Man gibt es am besten auf der Stelle auf – und denkt über etwas anderes nach. […]“2) Dann folgen Bilder von berühmten afro-amerikanischen Jazz-Musikern, vom alten New Orleans sowie einer afro-amerikanischen Tanzszene und diese Bilder sind – es ist kaum zu glauben – nicht etwa mit Jazz, sondern mit melancholischer klassisch-europäischer Klaviermusik unterlegt. Schwermut, klagende Beteuerungen europäischer Wichtigkeit und viel Musik, die absolut nichts vom faszinierenden Jazz-Feeling aus Übersee an sich hat, machen den Kontrast zu dem deutlich, was Jazz wirklich bedeutet. Der Film widerlegt damit nonverbal all seine bemühten Aussagen. Der Aufforderung afro-amerikanischer Musiker „Play your own thing!“ zu folgen, mag durchaus richtig sein, aber ob dabei eine Musik mit echter Jazz-Qualität entsteht, ist eine andere Frage. Nach dem Eindruck, den der Film hinterlässt, ist diese Frage in Bezug auf den europäischen „Jazz“ eindeutig zu verneinen.

Am Ende des Films wird Garbareks Aussage über Charlie Parker und eine Alternative noch einmal wiedergegeben – offenbar als eine Kurzfassung der Botschaft des Films. Garbareks Schlussfolgerung mag für ihn und andere europäische Musiker gültig sein. Doch muss eine Bezogenheit auf Parker keineswegs unzulängliche Nachahmung sein. Im Übrigen sind die Zeiten, als Musiker „versuchten, so zu leben wie Parker“ (was auch Rauschmittelkonsum bedeutete), längst vorüber. – Im Jahr 1990 trat Garbarek bei der Internationalen Jazzwoche Burghausen auf, die auch den afro-amerikanischen Saxofonisten Steve Coleman mit seiner Band präsentierte. Ein TV-Bericht über die Konzerte dieser beiden Saxofonisten begann mit den Worten: „In unserem heutigen Bericht stehen zwei Saxofonisten im Mittelpunkt – zwei sehr unterschiedliche Temperamente.“ Der Unterschied ergab sich aus dem, was Garbarek ansprach: Seine Musik hatte mit der von Parker praktisch nichts mehr gemeinsam. Dabei war Garbarek in jungen Jahren aus Begeisterung für die Musik von John Coltrane Musiker geworden3) und Coltrane klang nicht nur anfänglich ähnlich wie Parker4), sondern blieb trotz seiner rasanten Weiterentwicklung mit den Wurzeln verbunden. Die Meister der Jazz-Tradition rangen mit der enormen Herausforderung, die die Werke ihrer Vorgänger darstellen, und entwickelten daraus einen eigenen Beitrag zur Tradition. In den letzten Jahrzehnten gelang das besonders Steve Coleman, dessen Musik so eigenständig ist, dass (nach seiner Aussage) manche nicht einmal glauben können, dass er Charlie Parker hört5). Doch wer „wirklich Ohren hat“, könne klar erkennen, dass seine Musik eine „Ableitung von Charlie Parker“ ist, der seinen stärksten Einfluss bildet6). Als Coleman im selben Konzertzyklus wie Garbarek auftrat, spielte er (wie Parker zu seiner Zeit) aktuelle afro-amerikanische Groove-Musik7) auf extrem hohem Niveau. Wie Parkers Musik war auch die von Steve Coleman ein äußerst kunstvolles Spiel mit rhythmischer und melodischer BEWEGUNG. Garbareks Musik klang demgegenüber nahezu unbewegt, statisch und wirkte stattdessen durch lyrische, getragene bis elegische STIMMUNG. Im Jahr 2001 sagte Garbarek in einem Interview, dass der Jazz „heute nur noch zwei Minuten eines Garbarek-Quartett-Konzertes ausmacht“ und für ihn „nicht mehr wichtig ist“.8)

 

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  1. von Julian Benedikt
  2. eigene Übersetzung
  3. QUELLE: Tom R. Schulz in: Peter Niklas Wilson [Hrsg.], Jazz-Klassiker, Band 2, S. 736
  4. Saxofonist Jimmy Heath: „Er [Coltrane] war insofern einzigartig, als sein Sound auf dem Alt-Saxofon dem Charlie Parkers sehr ähnlich war. Trotzdem hat er nie, wie viele andere, bestimmte Klischees von Charlie Parker kopiert.“ Saxofonist Wayne Shorter: „Für mich klang er irgendwie wie Charlie Parker. Beide spielten das Saxofon, als wäre es gar kein Saxofon. Sie spielten in einer fließenden, mäandernden Art, wie man sie nur von Pianisten oder Geigern kannte. Die Leichtigkeit war nur durch stundenlanges Üben zu erreichen. Um so auf Touren zu kommen, brauchte man auch Muskeln, eine perfekte Körperbeherrschung.“ (QUELLE: Film The World According To John Coltrane, Robert Palmer, Toby Byron, 1990)
  5. QUELLE: von Nate Chinen am 11. Februar 1999 geführtes Interview mit Steve Coleman, Colemans Internetseite m-base.com, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/an-interview-conducted-by-nate-chinen/
  6. QUELLE: Fred Jung, My Conversation With Steve Coleman, Juli 1999, Colemans Internetseite m-base.com, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/my-conversation-with-steve-coleman/
  7. Blues und Swing bei Parker, Funk und Jazz-Tradition bei Coleman, vereinfacht gesagt
  8. QUELLE: Christian Broecking, Saxofon für den Kronprinzen, 22. November 2001, Die Tageszeitung, Internet-Adresse: http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2001/11/22/a0123

 

 

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