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Heimische Lobby


Der Leiter des Jazzinstituts Darmstadt1), Wolfram Knauer, erzählte, er habe in den ersten Jahren nach der Gründung des Instituts im Jahr 1990 Anrufe aus der Jazz-Szene erhalten, vor allem von Musikern, die sich beschwerten: „Warum müssen öffentliche Gelder in so eine Einrichtung fließen? Man sollte die doch lieber direkt an die Musiker geben!“ Er habe zurückgefragt: „Was wollt ihr denn? […] Sagt uns, was ihr braucht!“ Daraus seien viele Dinge entstanden und die Klagen seien bald verstummt.2) – Knauer vertritt den heimischen und europäischen Jazz moderat und damit umso wirksamer. Nach einem Aufenthalt in New York wurde er in einem Interview gefragt, ob es eine „spezifisch amerikanische Jazzkultur“ gibt, wie man sie „auf dieser Seite des Atlantik nicht erleben kann“. Knauer antwortete: „Natürlich gibt es die“, und erzählte von einem Auftritt eines Quartetts, das „hierzulande niemand kennt“ und „allerbesten Jazz in der Coltrane-Tradition“ spielte. Irgendwann sei der Schlagzeuger Bernard „Pretty" Purdie eingestiegen. Daraufhin habe es gegroovt, dass „man es kaum glauben mochte“, und er habe sich gedacht: „Das also ist der Unterschied zwischen Europa und einem Land mit hundert Jahren Jazzgeschichte, der schwarzen Kirche, den entsprechenden Lebenszusammenhängen. Immer wenn in Diskussionen die Rede darauf kam, dass heute alles Innovative in der improvisierten Musik eher in Europa geschehe, habe ich von dieser Szene erzählt als Beispiel dafür, was es in Europa eben nicht gibt.“3)

Bei so manchem Autor hat sich jedoch offenbar eine weitgehende Identifikation mit heimischen, europäischen und allgemein „weißen“ Musikern durchgesetzt. Das zeigt sich zum Beispiel in dem von mehreren deutschen Autoren verfassten Buch Jazz-Klassiker4) aus dem Jahr 2005, das die Jazzgeschichte als „Werkgeschichte der wichtigsten Musiker“5) beschreiben soll:

Verstünde man dieses Zurücksetzen afro-amerikanischer Musiker als eine Form rassistischer Diskriminierung, so wären die Autoren gewiss empört.

Ein weiteres Beispiel für die Überidentifikation mit heimischen Interessen ist der Kult um Albert Mangelsdorff. Der Hessische Rundfunk behauptete gar, Mangelsdorff „prägte den Jazz – über Jahrzehnte hinweg“.6) Mangelsdorff war gewiss ein ausgezeichneter Posaunist und der einzige deutsche Jazz-Musiker, der die Anerkennung einiger amerikanischer Musiker erlangte. Dass er zu einer Leitfigur vieler deutscher Musiker wurde, ist verständlich. Eine herausragende Persönlichkeit der Jazz-Geschichte war er jedoch nicht.
Mehr dazu: Albert Mangelsdorff

Ein im Jahr 2005 produzierter Film des deutschen Südwestrundfunks (SWR) mit dem Titel Miles and More. Das ideale Jazzkonzert stellt eine Aufnahme des Albert-Mangelsdorff-Quintetts aus dem Jahr 1964 in eine Reihe mit Ausschnitten von Konzerten so berühmter Musiker wie Miles Davis, Louis Armstrong, Duke Ellington, Thelonious Monk und Cannonball Adderley. Das widerspricht der unvergleichlich geringeren Bedeutung Mangelsdorffs. Noch dazu war es keineswegs die Musik seines damaligen Quintetts, wegen der er in der Jazz-Literatur erwähnt wird, sondern sein der Avantgarde zugerechnetes mehrstimmiges Spiel in Solo-Auftritten. Avantgarde-Musik wollte man den Zusehern im „idealen Jazzkonzert“ jedoch offenbar nicht zumuten und wählte stattdessen dieses Stück aus 1964, das eine hübsche Melodie eines thailändischen Volkslieds fortwährend wiederholt, unterbrochen von einem kurzen Solo Mangelsdorffs7). So hievte der Film, der wiederholt auch im „Schulfernsehen“ gesendet wurde8), einen deutschen Musiker mit einem gefälligen Lied in die vorderste Ahnenreihe der Jazz-Geschichte.

(Afro-)amerikanische Jazz-Musiker wurden auf Veranstaltungen zunehmend von heimischen verdrängt und soweit sie eingeladen werden, können sie häufig nicht mit eigener Band auftreten, sondern werden mit heimischen Musikern zusammengewürfelt, was zu unbefriedigenden Ergebnissen führt.
Mehr dazu: Bunky Green in Deutschland

Angetrieben wird der Prozess der heimischen Besitzergreifung wohl von den (im Verhältnis zum kleinen Jazz-Markt) viel zu vielen Leuten, die ursprünglich aus einer Begeisterung für den Jazz begannen, ihn selbst zu spielen, und nun von dieser Sache, in die sie ihre gesamte Zeit und Energie gesteckt haben, zu leben versuchen. Es werden viel zu viele Alben produziert, die Konkurrenz um die relativ wenigen Auftrittsmöglichkeiten und um andere Verdienstmöglichkeiten wie Lehrtätigkeiten ist groß und sowohl die beträchtlichen Fördermittel9) als auch das Hörerinteresse reichen bei Weitem nicht aus. – Knauer erkläre die gesamte Diskussion um den europäischen Jazz vor allem auch mit dem stärker gewordenen Wettbewerb auf dem europäischen Markt. Ab den 1990er Jahren seien neben Musikern aus Amerika „auch die europäischen Nachbarn eine ernstzunehmende Konkurrenz geworden. Öffentliche Förderung und Subventionen sind mehr und mehr zu einer Investition in den Kulturexport geworden, mit der die nationale Position auf dem wachsenden europäischen Markt gestärkt werden soll.“10)

Der Jazz-Kritiker Harald Justin schrieb: „Die seit 2006 in Bremen etablierte Jazz-Messe jazzahead hat deutliche Signale und Maßstäbe gesetzt, insofern es ihr um die ökonomische Erschließung des europäischen Marktes geht. Der Jazz der Zukunft in Europa soll weniger afro-amerikanisch dominiert und mehr europäisch zentriert sein. […] Es geht um die Verkaufbarkeit von Jazz, um Förder- und Preisgelder, um staatliche Subventionen und eben deshalb um ‚künstlerisch wertvolle Musik’“. […] Unter dem Signum ‚künstlerisch-wertvoller Musik’ wird (in Deutschland) einem Jazz-Verständnis zugearbeitet, das der europäischen Hochkultur geschuldet ist und bei dem Jazz afro-amerikanischer Herkunft zunehmend enteignet wird.“11)

Man mag es bei Konsumwaren lobenswert finden, heimische Produkte zu bevorzugen, doch bei Kultur muss es um die Sache selbst gehen, nicht um Geschäftsinteressen von Marktanbietern, egal ob es sich dabei um Musikproduktionsfirmen, Festivalveranstalter oder Musiker handelt. Gerade beim Jazz, der aus einer fernen Kultur stammt, ist eine national beschränkte Sicht hinterwäldlerisch. Jazz-Förderung ist nur dann Kulturförderung, wenn sie den Jazz selbst unterstützt, die Basis für seine spezifische Qualität stärkt, Kenntnisse über diese spezielle Musikkultur verbreitet und Zugang zu ihren bedeutendsten Beiträgen vermittelt.

 

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  1. Dieses Institut und das Institut für Jazzforschung Graz (gegründet 1969) sind die beiden bedeutenden, international anerkannten Forschungs- und Informationszentrum zum Jazz im deutschsprachigen Raum.
  2. QUELLEN: Wolfram Knauer, Jazz und Gesellschaft, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 7, 2002, S. 82; Interview mit Wolfram Knauer in einer Radio-Sendung des Hessischen Rundfunks Hr2-Kultur, Doppel-Kopf, am 27. August 2008
  3. QUELLE: Hans-Jürgen Linke, Jazz ist auch ein Missverständnis, 8. August 2008, Internetseite der Zeitung Frankfurter Rundschau, Internet-Adresse: http://www.fr.de/kultur/interview-jazz-ist-auch-ein-missverstaendnis-a-1165999
  4. QUELLE: Peter Niklas Wilson [Hrsg.], Jazz-Klassiker, 2005
  5. „Vorbemerkungen“, S. 2
  6. QUELLE: Der Nachlass der Jazzlegende Albert Mangelsdorff bleibt in Frankfurt, 5. März 2009, HR-Fernsehen, Sendereihe Hauptsache Kultur, Internet-Adresse: http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/index.jsp?rubrik=3030&key=standard_document_36493448
  7. Internet-Adresse eines YouTube-Videos von dieser Aufnahme (Albert Mangelsdorff - Now Jazz Ramwong): http://www.youtube.com/watch?v=42V8QIZ4bMc
  8. QUELLE: Internetseite planet-Schule, Internet-Adresse: http://www.planet-schule.de/sf/php/02_sen01.php?sendung=7959
  9. Jazz-Journalist Ralf Dombrowski: „Es gibt kaum eine Stilform, abgesehen von der Neuen Musik und der Klassik als Kulturbetrieb, die hier [in Europa] so viel gefördert wird wie der Jazz. Wenn ich mir die ganzen jungen Jazzer anschaue, die machen sehr wohl genaue Projektentwürfe, die sie dann bei Stiftungen einreichen. Das ist gezielt, was da passiert, und hat kaum noch etwas mit dem alten Künstlermythos zu tun.“ (QUELLE: Zeitschrift Jazz-Thing, Nr. 82, März 2010, S. 77)
  10. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], The World Meets Jazz, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 10, 2008, S. 10
  11. QUELLE: Wolfram Knauer [Hrsg.], The World Meets Jazz, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 10, 2008, S. 279

 

 

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