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Kritikverfall


Jazz-Kritik ist schwierig und Jazz-Kritiker erwiesen sich oft als inkompetent und abhängig von Marktinteressen und versuchten, eigene Interessen, theoretische Vorstellungen und Mythen durchzusetzen. Aber Jazz-Kritik ist nicht entbehrlich und dann am besten, wenn sie sich auf das Wissen der bedeutenden Musiker und der sie umgebenden Musikerkreise stützt. Der bedeutendste deutsche Jazz-Kritiker, Joachim-Ernst Berendt, schrieb: „Fast alles, was die Kritiker in 50 Jahren Jazz-Kritik an wirklich Relevantem zusammengetragen haben, stammt von den Musikern selbst. […] Nichts, was ich gelernt habe, war mir so wichtig wie die Gespräche mit Charlie Parker und all den anderen Musikern aus der Entstehungszeit des modernen Jazz, später mit Eric Dolphy, Albert Ayler, John Coltrane, wie ein ganzes Jahr praktischen Zusammenlebens mit Oscar Pettiford und die jahrelangen, immer wieder neuen Reisen kreuz und quer durch die USA, wie das ständige Hören von Jazz und das Diskutieren mit Jazz-Musikern und die Bekanntschaft mit Musikern in New Orleans und Kansas City, auf der Southside Chicagos, in Hollywood und San Francisco, in Harlem und auf der 52nd Street und später auf den ‚Lofts‘ des New Yorker Village.“1)

Welche der vielen Musiker wirklich maßgeblich sind, muss allerdings erst einmal erkannt werden und auch die Auffassungen der Musiker sind manchmal voller Gegensätze und Konkurrenz, besonders zwischen unterschiedlichen Musikerkreisen. Jazz-Kritik hat stets eine Wahl zu treffen2) und von ihr hängt es weitgehend ab, welche Musiker öffentliche Anerkennung, ein größeres Hörerinteresse und damit eine Existenzgrundlage erhalten.3) Diese Wahl bedeutet zwangsläufig ein Aussieben und Beiseitelegen vieler Musikproduktionen. Das soll zwar nicht (wie es anfangs häufig vorkam4)) in feindseliger, herabsetzender Weise erfolgen, doch ist das kritische Filtern unentbehrlich, wenn nicht allein die Beliebigkeit und Oberflächlichkeit des Marktes bestimmend sein soll. Lange Zeit wurde „jeder Schlager, der einen durchgehenden Rhythmus hatte“, als Jazz verstanden5) und Berendt erzählte, dass er in den 1950er Jahren „Vorträge haltend landauf-landab durch Deutschland zog und nirgendwo über Jazz sprechen konnte, ohne zunächst sagen zu müssen, was Jazz nicht ist […]“.6)

Jazz-Kritik braucht ein Verständnis für die Besonderheiten des Jazz, für seine spezifischen Qualitäten, für die grundlegenden Auffassungen, die der Jazz-Tradition Kontinuität verleihen, für die Bedeutung des musikalischen Ausdrucks in dieser Tradition, für die Geschichten, die sie erzählt, für das Wesen7) dieser Musikkultur, das in den Meisterwerken konzentriert zum Ausdruck kommt. Diese Werke bilden den Maßstab für Jazz-Qualität und damit den Gegenpol zur Tendenz des Marktes, jeden kulturellen Wert in einer Flut von Verkäuflichem aufzulösen.

Zumindest im deutschsprachigen Raum etablierte sich kein allgemeines Verständnis für die Jazz-Kultur und keine gesellschaftliche Verankerung des Jazz als Kulturgut. Während jeder bereits im Kindesalter mit klassischer Musik in Berührung kommt und später die kulturelle Bedeutung von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven vermittelt bekommt, blieb die Kenntnis der entsprechenden Meister des Jazz bis heute eine Art Geheimwissen. Klassische Musik ist nach wie vor gepflegte und verbreitete europäische Kultur, Jazz hingegen ein fernes, fremdes Terrain, das die meisten nicht, eine Minderheit am Rande und nur einzelne näher kennen. Es ist ein seltener Glücksfall, wenn jemand im Laufe seines Lebens irgendwann die besondere Brillanz von Charlie Parkers Improvisationen fühlen und genießen und ihre Tiefgründigkeit und Komplexität zumindest erahnen kann. Wer ist mit der bis heute unübertroffenen Meisterschaft des Pianisten Art Tatum vertraut? Auf die Bedeutung der Komponisten der europäischen Konzertmusik von Bach bis Béla Bartók und Igor Strawinsky weisen selbst Jazz-Musiker immer wieder hin. Die großen „spontanen Komponisten“ der Jazz-Geschichte sind hingegen den meisten unbekannt und kommen selbst in den Medien, die sich an Jazz-Interessierte richten, kaum mehr vor.

Berendt berichtete, dass in den 1950er Jahren (international) „ganze Bibliotheken von Jazz-Literatur entstanden“, doch Anfang der 1960er Jahre (nicht nur in Deutschland) deutlich wurde: „Die Gleichung zwischen der Informationsarbeit und dem Verständnis war nicht – oder jedenfalls nur bedingt – aufgegangen. […] Wenn ich in den Bücherregalen durchschnittlich informierter, aufgeschlossener Bürger mein Jazzbuch fand, freute ich mich natürlich, aber dann sah ich, dass im Plattenschrank allenfalls das Modern Jazz Quartet stand, neben Bach und Mozart und den anderen – Hunderte von klassischen Platten, aber keine Billie Holiday und kein Lester Young und kein Charlie Parker – und dann ärgerte ich mich, und ich sagte mir: Es war alles umsonst.“8)

Berendts Jazzbuch enthält viele zweifelhafte Darstellungen und er bekannte später selbst: „Ich bin mehr Schriftsteller als Jazzspezialist. […] Der Welterfolg meines Jazzbuches ist überhaupt nur durch seinen Stil und seine Form zu erklären – also mehr durch Schriftstellerisches als Inhaltliches.“9) Doch ist das Jazzbuch in der 1989 erschienen Fassung noch weit besser und ernsthafter als vieles, was jüngere deutschsprachige Jazz-Kritiker schrieben. Sie scheinen wesentlich stärker persönlichen Vorlieben, lobbyistischen Anliegen und Marktinteressen zu folgen, statt das Überangebot des Marktes im Hinblick auf echte Jazz-Qualität zu filtern. Soweit sie sich überhaupt noch an kulturellen Gesichtspunkten orientieren, entstammen diese offenbar häufig einer von europäischer Klassik und Moderne geprägten Kunstauffassung. Ein tieferes Verständnis für die Werte, das Feeling und die Botschaften der Armstrong-Parker-Coltrane-Kultur ist bei ihnen kaum mehr spürbar. Sie scheinen aus voller Überzeugung die unterschiedlichsten Musiker, insbesondere der deutschen und europäischen Szene, zu preisen und nach kurzer Zeit verblasst die Aufmerksamkeit für diese Musiker wieder, ohne dass sie irgendeinen nachhaltigen Einfluss ausgeübt oder eine nennenswerte Bedeutung über die regionalen Szenen hinaus erlangt haben.

Niemandem wird Jazz-Verständnis in die Wiege gelegt und das musikalische Gespür entwickelt sich für das, was man über lange Zeit mit Hingabe hört. Je mehr sich Kritiker von den Musikerkreisen in Amerika ablösten und selbstbewusst eigenen Vorstellungen folgten, desto subjektiver wurden ihre Urteile und desto mehr zersplitterte die Jazz-Kritik in beliebige Auffassungen. Damit, dass Meistern aus den USA die europäischen Türen verschlossen werden, verspielen Europäer eine wichtige Gelegenheit, Jazz-Feeling zu erfahren und zu entwickeln. Die Folge des Abschottens10) ist eine Situation wie auf einem Jahrmarkt, wo Etiketten wahllos verwendet werden, alles Mögliche mit beliebigen Argumenten beworben wird und selbst Interessierte keine Anregungen zum Entdecken echter Jazz-Qualität mehr erhalten.

 

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  1. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, Ein Fenster aus Jazz, 1977, S. 416 – Steve Coleman: „Ich glaube, dass die Eingeweihten (die Musiker, die nahe an [Charlie] Parkers Niveau sind) die ersten sind, die davon beeindruckt werden. Sie leiten die Information und den Einfluss an die Musiker weiter, die gleich unter ihrem Niveau sind, und so weiter. Die kollektive Wirkung dieser Konzepte wird schließlich an das Ohr des Publikums übermittelt (wenn auch notwendigerweise in verdünnter Form).“ (QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, im Zusammenhang mit dem Stück Ornithology, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, eigene Übersetzung)
  2. Jazz-Kritiker treffen schon allein durch die Auswahl der Aufnahmen, die sie besprechen, eine Wahl. Soweit sie Bewertungen vermeiden, überlassen sie die Wahl dem Markt, der keineswegs am Kriterium der Jazz-Qualität ausgerichtet ist. Auch dieses Überlassen der Wahl ist eine Wahl.
  3. Sam Rivers: „Ich bin mir nicht sicher, ob das Publikum jemals irgendwelche Kriterien besaß. Dem Publikum wird ja gewöhnlich gesagt, welchen Musiker es zu mögen hat und welchen nicht. Die Kritiker und die Historiker legen fest, was gut ist, und man liest es. Und dann kommt man soweit, dass man denkt, wenn sie sagen, dass es gut ist, dann wird das schon gut sein. Aber möglicherweise haben diese Kritiker gar keine Ahnung.“ (QUELLE: Ekkehard Jost, Jazzmusiker, 1982, S. 83)
  4. Historiker Lewis A. Erenberg: In den Anfängen der Jazz-Kritik in den 1930er Jahren haben sich Kritiker „in ihren Kolumnen mit offenem Enthusiasmus und offener Abneigung wie Fans“ benommen. John Hammond sei zum Beispiel wegen seines Einsatzes für viele Musiker einerseits sehr geschätzt worden, andererseits aber wegen seiner Selbstgerechtigkeit und der Art, Musikern verbal „mit der Schaufel ins Gesicht zu schlagen“, auch heftig kritisiert. Selbst Duke Ellington bekam „diese Schaufel zu spüren“. (QUELLE: Lewis A. Erenberg in: Wolfram Knauer [Hrsg.], Jazz und Gesellschaft, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 7, 2002, S. 168)
  5. Joachim-Ernst Berendt: „Später [1940er-50er Jahre] empfanden ‚die Leute‘ – zumal in Europa, besonders in Deutschland! – jeden Schlager, der einen durchgehenden Rhythmus hatte (und fast jeder Schlager hat das), als Jazz.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt [Hrsg.], Die Story des Jazz, 1980, S. 10)
  6. Joachim-Ernst Berendt: „Ich erinnere mich noch an die Fünfziger-Jahre, wo ich Vorträge haltend landauf-landab durch Deutschland zog und nirgendwo über Jazz sprechen konnte, ohne zunächst sagen zu müssen, was Jazz nicht ist: kommerzielle Schlager- und Tanzmusik.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt [Hrsg.], Die Story des Jazz, 1980, S. 10)
  7. Das Wesen des Jazz ist natürlich eine Konstruktion, die immer umstritten bleibt. Aber wenn man zu verstehen versucht, warum Musiker über Jahrzehnte hinweg die Meister der Jazz-Geschichte verehren und sich an ihnen orientieren, dann wird doch eine grundlegende Charakteristik erkennbar. Das gilt ja auch für andere Musikkulturen, etwa die europäischen Klassik oder die „echten“ (nicht Schlager-artigen) Volksmusikformen.
  8. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, Ein Fenster aus Jazz, 1977, S. 12
  9. QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, Das Leben – Ein Klang, 2007, S. 315
  10. Jazz-Publizist Wolf Kampmann im Jahr 2010: „Die Jazzszene in Amerika läuft, ohne dass sie noch auf den europäischen Markt angewiesen ist. Wir hören noch einen Dave Sanborn oder die neue Platte von Joe Lovano und denken dann, das sei der amerikanische Jazz. Doch bekommen wir nur mehr einen winzigen Ausschnitt mit. Es entstehen in Amerika neue Szenen, von denen wir keine Vorstellung haben, weil es keine Agenturen, keine Promoter, keine Labels gibt, die sie hierher bringen. Folglich gibt es auch keine Medien, die das abbilden, oder bestenfalls ganz vereinzelt, weil bestimmte Journalisten sich mal etwas mehr bemühen. […] Wir übersehen von hier [in Europa] aus nicht nur nicht, was nachwächst, sondern auch, was die mittlere Schicht der Musiker der Neunziger so treibt. […] Die Kommunikation ist abgeschnitten und dadurch entsteht das Gefühl: Jaja, nur die europäischen Musiker entwickeln sich weiter.“ (QUELLE: Zeitschrift JazzThing, Nr. 82, März 2010, S. 77)

 

 

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