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Ausschnitt eines Henry Threadgill Interviews


Ethan Iverson1), Interview with Henry Threadgill (3), 21. Mai 20112)
Eigene Übersetzung


Henry Threadgill (geboren 1944): So hörte ich [Arthur] Rubinstein und sie alle auf der University of Chicago vor Ort. Ich traf Hindemith und Varese …

Ethan Iverson (geboren 1973): Was sagte Hindemith?

Henry Threadgill: Ah, Hindemith, er mochte Amerikaner nicht. Er dachte, wir wären das blödeste Volk auf der Erde.

Ethan Iverson: Mochtest Du seine Musik?

Henry Threadgill: Ja. Ich traf ihn nur ein wenig im Zentrum für Zeitgenössische Musik. Das war im Grunde zur selben Zeit wie Ralph Shapey, wie die Contemporary Chamber Players, so konnte ich alles sehen. Ich hörte Berio, all diese zeitgenössischen Typen. Ich hörte all diese Musik live. Schönberg, ich hörte all sein Zeug live gespielt von wahrscheinlich besten Musikern der Welt in der damaligen Zeit, denn das Orchester war hip. Dieses Contemporary Chamber Players Orchester, sie spielten nur das avancierteste Zeug.

Ethan Iverson: Shapeys eigene Musik war großartig.

Henry Threadgill: Ja! So existierte die AACM3) Seite an Seite mit ihnen im Areal der University of Chicago. Wir hörten sie an und sie hörten uns auch an, aber sie würden es nicht zugeben. Shapey würde es. Ja, sie hörten sich an, was wir machten, aber wir hörten uns alles an, was damals lief. So hörte ich all diese Musik, während andere Typen aus Fakebooks übten und wie man Coltrane spielt. Sie waren nicht auf diesen Konzerten.

Ich war lange Zeit in Kontakt mit Joseph Schillingers Frau. Sie war oft in der Upper-East-Side hier oben. Ich lud sie oft zu Sachen ein und sie sagte: “Oh, Henry, ich bin zu alt.” Schillinger schrieb ein Buch darüber, wie man choreographiert. Es wurde nie gedruckt. Das Lincoln Center hat es, die Bibliothek dort, und sie wollten es mich nicht anschauen lassen. Ich bin auf es gestoßen und ich wollte sehen, was er sich einfallen hat lassen. Sie wollten mich es nicht sehen lassen, daher rief ich sie an und sagte: “Wen kennst Du?” Sie rief sie an und sagte: “Mr. Threadgill hat meine Erlaubnis alles anzusehen, das ihr in eurem Besitz habt.” Sie wollten es mich nicht kopieren lassen. Ich ging immer wieder einmal hin und ich kopierte es.

Ethan Iverson: Das ist also ein System, das für Dich wertvoll ist.

Henry Threadgill: Also, ich war im Tanz. Ich war immer im Tanz und auch im Theater. Ich verdiente meinen Unterhalt im Tanz und im Theater, bevor ich Chicago verließ, denn die Jazz-Musiker engagierten mich nicht. Sehr zu meinem Vorteil.

Ethan Iverson: Klingt, als wäre das Lachen hier zuletzt auf Deiner Seite gewesen.

Henry Threadgill: Oh, du weißt, die beste Sache, die dir passieren kann, ist manchmal, abgelehnt zu werden, wenn du die Fähigkeit hast, seitwärts zu denken! Wenn dir Leute die Türe verschließen, dann haben sie in Wirklichkeit mehrere Türen geöffnet. Das hat mich nie geplagt. Chicago war wie “Oh, er kann nicht spielen”. So engagierte mich die Theater Community und ich spielte in der Blues-Band mit Left Hand Frank und all diesen Leuten. Ich spielte in echten Blues-Bands. Ich war in der Hausband im Blue Flame. Und ich spielte in Polka-Bands auf der Klarinette. Und ich spielte in Parade-Musik-Bands. Ich kam nicht wirklich mit diesen Leuten zusammen, die versuchten, Stücke oder wie Sonny Rollins oder wer auch immer zu spielen. In Wirklichkeit habe ich die größere und bessere musikalische Ausbildung erhalten, indem ich in Polka-Bands, Parade-Bands, Mariachi-Bands, Latin-Bands, Kirchen-Bands spielte.

Ich habe echt eine musikalische Ausbildung erhalten. Denn sonst hätte ich bloß (er scattet Scrapple from the Apple und Donna Lee) gespielt oder was auch immer vom diesem Schubi-Dubi-Scheiß, den sie machten. Diese Typen wussten einen Dreck, wer [Luciano] Berio war. Sie wussten im Grunde nicht einmal etwas über [Richard] Strauss. “Oh, er schreibt Walzer?” (sarkastisch:) “Ja, er schreibt Walzer.” [Igor] Strawinski oder [Olivier] Messiaen, wer waren sie? Ich sah nie die Jazz-Clique in einer Konzerthalle Musik aus-checken.

Es war ein längerer Prozess, Musiker zu werden. Ich wurde aus der Welt der traditionellen Leute, der Jazz-Spieler, ausgeschlossen, und in eine größere Welt gezwungen, die viel mehr Zeit in Anspruch nahm. Beim ersten Mal, als sich ein Orchester vor mir aufbaute, war ich so verwandelt, dass ich nicht wusste, was ich tun soll. Als dann der Kabuki vor mich trat, war ich zerstört. So wurde es eine längere Reise als damals, als ich begann, von Sonny Rollins und Lester Young beeindruckt zu sein, dieser engen Welt, in der ich begann. Nicht nur ich, sondern auch die anderen Leute, die dann die AACM bildeten, wie Wadada [Leo Smith] und Roscoe Mitchell, wir alle kamen so (zeigt “klein”) daher. Im nächsten Moment war das Bild so groß. Das ist etwas, das man in allen unseren Backgrounds feststellen kann.

Ich war ein Sonny-Rollins-Fanatiker, als ich mit 15 Jahren daherkam. Aber plötzlich veränderte sich das gesamte Bild, als Ornette [Coleman] und Cecil [Taylor] auftauchten. Ich wusste immer, dass ich nicht diese andere Musik spielen werde, denn ich konnte diese Musik nicht in der vordersten Reihe spielen. Niemand anderer konnte diese Musik spielen als die Leute, die sie lebten. Musik kommt aus einem sozialen Kontext.

Ethan Iverson: Genau.

Henry Threadgill: Und die jungen Musiker heute verstehen das nicht. Alles was du machen kannst, ist, etwas zu üben, das nicht aus deiner Zeit ist. Du bist dazu nicht in der Lage. Kunst hat einen emotionalen, sozialen, psychologischen und geistigen Kontext, der an dich gebunden ist als jemand, der in der Geschichte zu dieser Zeit geboren ist. Du bist niemals in der Lage auszudrücken, was Bud Powell ausdrückte. Du wirst niemals ausdrücken, was Liszt ausdrückte, als er sich hinsetzte und spielte. Du kannst das nicht. Es ist an die Zeiten gebunden. Und junge Musiker verschwenden ihre Zeit mit Üben und Üben und Üben und denken, sie würden dorthin gelangen und etwas spielen, was Dizzy Gillespie spielte. Du kannst das nicht. Er machte es! Du musst etwas anderes finden. Du kannst nur die Musik spielen, die du gelernt hast, aber du wirst nie in der Lage sein, mit Oscar Peterson oder Bill Evans oder sonst wen, der diese Musik spielte, zu konkurrieren. Ich entdeckte das, als ich jung war. Ich lernte, dass ich das nie machen kann, nicht in der Art, wie sie es machten. Es ist mir egal, wie viel du darüber lernst. Du wirst nicht in der Lage sein, das zu machen, weil es an ein Leben gebunden ist. Musik ist alles, was du in einem Leben gelernt hast; sie ist deine Familie, deine Freunde, deine Erfahrungen, deine Nöte, deine guten Tage, deine schlechten Tage – sie ist in all das eingebunden. All das kommt ins Spiel, wenn du etwas ausdrückst. Die Integrität darin wird zur echten Realität, wenn sie zu einem Teil deiner Zeit wird. Akzeptiere, dass das, was du ausdrückst, ein Produkt deiner Zeit ist. Du kannst nicht für das Produkt einer anderen Periode die notwendige Investition im Sinne der Emotion und der Psychologie und der Erfahrung aufbringen, um es auf dieses Niveau zu bringen. Nur die Leute aus dieser Zeit können das.

Nun benutzen Leute in diesen Schulen einfach junge Leute, indem sie sie dafür zahlen zu lassen, Jazz und Krempel zu lernen und ein Niveau der Exzellenz zu erreichen. Und sie kommen dann heraus und glauben, dass sie vollenden werden, was diese anderen Leute vollendet haben. Du wirst es nicht. Nicht bei diesem. Du wirst vielleicht bei etwas anderem in der Lage sein, es zu tun, aber nicht bei diesem. Wenn du glaubst, dass dieser Auftritt von Max Roach und Dizzy Gillespie in Paris getoppt werden kann, dann denke noch einmal nach. Sie waren die besten Spieler dieser Zeit und sie brachten es auf einen Gipfel. Das ist immer so. [Frédéric] Chopin brachte es auf einen Gipfel, all diese Leute bringen diese Dinge auf einen Gipfel, und es geht dabei um alles in deinem Leben, deine Familie, deine Freunde, deine Ausbildung, deine Höhen und Tiefen. All das ist in der Psyche des Künstlers. Und wenn du in eine andere Periode kommst, dann hat diese Periode die Anforderung, dass du das so ausrichtest, dass du etwas aus dieser Periode ausdrückst.

Mann, es ist echt großartig, was die New School und Berklee Leuten über Technik lehren kann, aber sie verleiten sie dazu, ihre gesamte Zeit dafür hinzugeben, zu denken, dass man etwas spielen wird, das Coltrane oder Lester Young oder Wayne Shorter oder sonst wer gespielt hat – Musik, die spezifisch für eine spezifische Zeit war. Denn es gibt einen Abtrennungspunkt, wie bei den Post-Bop-Leuten. Ich bin zu jung, um ein Teil von dem zu sein. Ich bin jenseits von dem. Was gibt es also für mich? Denn das ist so gut wie leer.

In dieser Periode machten wir alle als Jugendliche Musik und ich werde nie vergessen, wie wir Ornettes Zeug hörten und sagten: „Mann, das ist es.“ Hier ist die Stimme neuer Möglichkeiten. Plötzlich. Wir saßen da und übten Daahoud4) und wir wussten in unseren Herzen, dass das zu nichts führen wird. Frank Strozier, Booker Little und einige dieser Leute erbten dieses Zeug, aber wir waren dafür zu jung. Als Trane [Coltrane] zu dieser letzten Periode überging und Ornette und Albert [Ayler] […] auftauchten, ich werde das nie vergessen. Ich sage dir, es war wie ein Feueralarm, der losgeht. Wir schalteten das Radio ein und ich hörte Lonely Woman5) und sagte “Ah, oh”. Wir waren 15 oder 16. “Hast du das gehört, hast du das im Radio gehört?” Wir sagten alle: “Hast du diese Musik gehört – wir müssen das kriegen.” Plötzlich …

Ethan Iverson: Auch die Band. Charlie Haden …

Henry Threadgill: Oh, vergiss es, er war von einem anderen Planet. Es war ein brandneuer Tag. Sun Ra war bereits in Chicago gewesen und so, aber er war weggegangen. Aber dieser Mann, das war wie eine Hymne. Es war fast wie etwas, das losging und wir hörten es alle. Es gab eine Gruppe von Burschen, die es nicht hörten, und das waren jene Burschen, die in dem Traum blieben, dem falschen Traum, so weit es mich betraf. Denn sie gingen nie irgendwo hin. Nicht, dass die meisten von ihnen aufhörten, Musik zu spielen, aber das war wie eine Stimme in der Wildnis oder so etwas. Das war wie Möglichkeiten. Oh, wow, hier ist es. Und wir wussten nicht, was es bedeutete, aber es war, als wäre das der Weg. Aber was für ein Weg ist dieser Weg? Wir wussten bloß, das war der neue Weg, in den wir uns komplett einbringen konnten.

Du fährst fort, Nachbildungen und Variationen von der selben Sache zu machen, und das ist es, was in den Künsten über lange Zeit vor sich geht. Aber die Leute, die leiden, sind die jungen Musiker, durch die Leute, die sie unterrichten, und die Leute, die sie engagieren, um den Unterhalt zu bestreiten – es kann deine Entwicklung zerstören. Wegen dem kann es Jahre in Anspruch nehmen, sich selbst zu finden. Du musst durch all dieses Schlamassel, wenn du Glück hast, um dich zu finden. Burschen üben und lernen Coltrane-Soli. Wozu willst du Coltranes Solo über Giant Steps lernen? Was sollst du dabei herausfinden? Sich damit zu beschäftigen, sich es ansehen und es zu studieren, ja, aber sich physisch damit zu beschäftigen, heißt, sich zu verseuchen. Du beginnst, etwas zu üben, und Üben macht nicht perfekt, Üben macht permanent. Du beginnst, Sachen in dich hineinzugeben, und es wird Zeit brauchen, Sachen aus dir heraus zu bringen. Du brauchst vielleicht einen großen Einlauf dafür.

Verstehst du, was ich sage?

Du solltest dich mit bestimmter Musik nur auf einer intellektuellen Ebene der Betrachtung und des Verstehens beschäftigen, aber du solltest es nicht in dich hineinstecken. Du findest ein wenig heraus, wie man ein Zeug macht, aber stiehl das Zeug nicht, denn dieses Zeug ist mächtig. Die Leute, denen du zuhörtest – das war ein mächtiges Zeug, das von ihnen kommt. Deine Muskeln haben nichts mit deinem Geist zu tun. Sie werden übernehmen. Es gibt Informationszellen in deinen Muskeln. Du wirst Information in deine Muskeln geben, für die du zahlen musst, um sie wieder los zu werden.

Erinnere dich, wir entwickeln uns in der Zeit, wir gehen durch diese Periode. Eine Menge Zeug kommt auf uns zu. Wir kondensieren es, wir werfen raus, was wir nicht brauchen. Nun steckst du einiges an Zeug in dich, das für dich zu mächtig ist, um es auszuwerfen, und es wird bei dir bleiben. Du gibst einiges an Zeug hinein, das du nicht abbauen kannst, und es wird in dir bleiben, es wird dir lange Zeit in die Quere kommen. Du musst in deinem Training vorsichtig sein.

 

 

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  1. Pianist (Trio The Bad Plus)
  2. QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Henry Threadgill (3), 21. Mai 2011, Iversons Internetseite Do The Math, Internet-Adresse: https://ethaniverson.com/interview-with-henry-threadgill-part-3/
  3. Association for the Advancement of Creative Musicians (eine 1965 in Chicago gegründete Musikervereinigung, die dem Bereich des Free-Jazz zugeordnet wird)
  4. Komposition von Clifford Brown
  5. Stück von Ornette Coleman

 

 

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