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Steve Coleman zur Frage nach einem Konnex zwischen
musikalischer Sprache und Jazz

Steve Coleman, The "Nexus" of a Musical Language and Jazz, 20071)
Eigene Übersetzung

 

Jason DuMars: Ich habe eine persönliche/musikalische Frage an Dich. Etwas, womit ich wirklich ringe, ist der Konnex zwischen meiner eigenen persönlichen musikalischen Sprache und der des Jazz. Was half Dir am meisten, Dich auf Dein eigenes Vokabular zu konzentrieren, besonders wenn Du mit anderen Musikern zusammenarbeitest? Wie bist Du den Erwartungen ausgewichen, die so viele andere Musiker zu haben scheinen und nach denen man kein richtiger Alt-Saxofonist ist, wenn man nicht so spielt wie der und der? Ich bin für jeden Rat dankbar.

Steve Colemans: Das ist eine interessante Frage. Einen Teil Deiner Frage kann ich leicht beantworten. Ich denke NIE über „Jazz“ nach und kümmere mich NIE darum, was andere von mir erwarten, dass ich spiele, oder welchen Stil sie von mir erwarten.

Wenn Du über irgendwelche Etiketten nachdenkst, wird das Deine Kreativität einschränken. Zum größten Teil haben die Pioniere welcher Musik auch immer nicht im Sinne von Etiketten oder Stil-Bezeichnungen gedacht. Man kann über eine bestimmte „Form“ nachdenken (sagen wir über eine bestimmte Art von Zyklus oder was immer), aber ich denke nie im Sinne von dem, was Stil genannt wird, nicht einmal im Sinn von dem, was die Leute denken, dass es angeblich mein Stil ist. Ich denke nicht im Sinne von Stilen und sehe mich selbst nicht so, dass ich einen Stil habe. Gestalten ohne Stil im Sinn zu haben, spielen ohne zu spielen, komponieren ohne zu komponieren. Ich konzentriere mich nur auf das, was ich zu sagen versuche (mehr dazu unten). Was mich betrifft, besteht somit kein „Konnex“ zwischen der dynamischen Sprache (im Sinne von sich ständig verändernd), mit der ich im Augenblick beschäftigt bin, und der des so genannten „Jazz“, denn ich weigere mich zu akzeptieren, dass „Jazz“ existiert. „Jazz“ ist für mich der nicht-so-kreative Teil, auf den sich die meisten Leute beziehen, wenn sie manche Formen aus der Vergangenheit hören. Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke, aber ich habe die Musik von Leuten wie Duke Ellington, Don Byas, Charlie Parker, Art Tatum, John Coltrane, Muhal Richard Abrams, Henry Threadgill und so weiter … diese kreative Tradition nie als „Jazz“ angesehen. Es ist mir egal, wie es andere nennen und ich schenk sogar dem, wie diese Leute (das heißt die Musiker) es nennen, keine große Beachtung. Ich sag Dir einfach meine ehrliche Meinung dazu. So gibt es für mich keinen „Konnex“, ich brauch mich nicht um irgendeine Art von Konsistenz zu kümmern, während ich bloß mit dem beschäftigt bin, von wo ich herkomme, und ich versuche, möglichst wahrhaftig und konsistent mit mir selbst zu sein – in allen Bereichen des Lebens. Ich denke, wenn ich in dieser Sphäre bleiben kann, mit dieser Schwingung lebe, dann erledigen sich die Dinge von selbst.

Letztlich glaube ich, dass die Menschen die lebendige Verkörperung der Kreativität sind, dass wir nicht zu „versuchen“ brauchen, kreativ zu sein – wir müssen einfach Wissen darüber haben, was wir sind, und die Kreativität kommt auf natürliche Weise aus unserem In-Harmonie-Sein mit unserer wahren Natur.

Das ist die einfachste Weise, wie ich es ausdrücken kann.

Was den zweiten Teil anbelangt, so kümmere ich mich NIE darum, was andere von mir erwarten, dass ich spiele (ausgenommen die Leute, die in dem Augenblick in der Gruppe sind, in dem wir versuchen, etwas zu schaffen). Das ist in meinen Augen eine der größten Fallen, in die ein Musiker geraten kann. Wenn Du eine Geschichte hast (und jeder hat eine), dann solltest Du nach meiner Meinung diese Geschichte erzählen. Ich glaube tatsächlich, dass die Geschichte, die zu erzählen am wichtigsten ist, durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder erzählt wird (die Geschichte vom Prinzip der GESTALTUNG), aber das ist ein anderer Punkt als der, um den es mir jetzt geht.

Allgemein gesprochen, ist es eine große Falle, das zu tun, was andere von einem erwarten. Es kann einen niemals dahin führen, das zu sein und auszudrücken, was man ist. All die Großen sind dem Beat ihres eigenen Trommlers gefolgt. Sobald man sich um die Meinungen anderer zu sorgen beginnt, ist deine Kreativität dem Untergang geweiht. Das ist jedenfalls meine Meinung.

Nun, was die Zusammenarbeit mit anderen Musikern betrifft, so wirst du feststellen, dass Du, wenn Du kreativ bist, zu anderen hingezogen wirst und andere ähnlich gesinnte kreative Personen anziehst. Dann ist das Bilden einer Zusammenarbeit kein Problem, denn diese kreativen Personen werden größtenteils von Dir nicht erwarten, wie jemand anderer zu klingen. Das einzige Problem besteht dabei darin, dass Du in deinen Überzeugungen und Ideen sehr stark sein musst, denn diese kreativen Leute sind in der Minderheit, auch wenn sie sehr stark sind. Die meisten Leute neigen dazu nachzuahmen und ihrer eigenen Kreativität sehr wenig Beachtung zu schenken. Das mag seltsam erscheinen, da diese Musik auf einer gewissen Ebene eine kreative Betätigung ist. Aber wie Du gewiss weißt, bedeutet Musik zu machen, nicht automatisch, eine kreative Person zu sein.

In meinem Fall ist der Fokus immer darauf gerichtet gewesen, was ich zu sagen versuche (wobei ich die Musik als eine klangliche symbolische Sprache verwendet habe) und wie ich es sagen möchte. Als ich zu lernen begann, wie man spielt, haben die alten Musiker in der South Side von Chicago immer betont: „Finde deinen eigenen Sound“, „finde heraus, was du sagen willst“, „was ist deine Geschichte“ und so ein Zeug. Da sie alle ziemlich einzigartig klangen, interpretierte ich das so, dass ich musikalisch meinen eigenen Weg finden muss, um das zu sagen, was ich sagen möchte. In anderen Worten: Ich muss meine eigene musikalische Sprache finden, um meine Geschichte in meiner eigenen Art zu erzählen. So begann die Suche, noch bevor ich irgendetwas auch nur halbwegs gut spielen konnte. Das bedeutete, dass ich die Grundlagen der Musik lernte und gleichzeitig herausfand, was ich sagen möchte und wie ich es sagen möchte, indem ich Musik als meine Sprache verwende.

Das Witzige ist dabei, dass mir IMMER NOCH vorkommt, dass das genau das ist, wo ich jetzt bin! Ich versuche immer noch sehr, die GRUNDLAGEN der Musik zu lernen - oder ich sollte sagen, dass ich jetzt mehr als je zuvor versuche, die GRUNDLAGEN der Musik zu lernen. Und ich versuche definitiv immer noch, das Was, Warum und Wie des Ausdrückens durch die Sprache der Musik auszuarbeiten.

Was für mich die Dinge wirklich geklärt hat, war, dass ich gewissermaßen in den Griff bekam, „was ich mit meiner Musik zu sagen versuche“. Mit anderen Worten: Es ist eine Sache, gefühlvoll und mit Ausdruckskraft zu spielen und eine ganz andere zu versuchen, sehr spezifische Ideen durch seine Musik auszudrücken. Alle Menschen sind mit Emotion als grundlegender Sprache geboren. Bereits Babys haben das. Im Wesentlichen ist das anfangs die einzige Sprache, die wir besitzen. Aber es gibt in uns mehr als Emotion. Gefühl und Emotion sind nicht dasselbe. Tatsächlich umfasst Gefühl Emotion, aber auch andere Formen der Wahrnehmung, körperliche und geistige Wahrnehmungen, Eindrücke und selbst spirituelle Wahrnehmungen und Eindrücke.

Wir hören oft Leute darüber reden, dass man mit seiner Musik oder seinem Solo „eine Geschichte erzählen“ soll, aber was ist damit gemeint? Es ist zu komplex, um in einer E-Mail in Details zu gehen (ich könnte versuchen, einmal ein kleines Buch darüber zu schreiben), aber ich denke, dass es einfach dieselbe Sache meint, was normalerweise das „Erzählen einer Geschichte“ für eine Person bedeutet. Ich fand jedoch heraus, dass ich mir anschauen muss, was „eine Geschichte zu erzählen“ in alten Zeiten, also vor sehr langer Zeit, für die Leute bedeutete. Denn „eine Geschichte zu erzählen“ war damals nicht genau dasselbe wie heute. Damals bedeutete „eine Geschichte zu erzählen“, mithilfe von Symbolen über etwas zu sprechen, die ein oder mehrere Prinzipien auf mehrfachen Ebenen aufzeigten. Heute mag „eine Geschichte zu erzählen“ für jemanden bedeuten, über etwas Spezifisches zu sprechen, wie zum Beispiel über eine Beziehung, die man zu einer Frau hat oder so etwas. So begann ich, mir die Arten von Geschichten anzusehen, die Leute wie Bach, Beethoven, Bartok, Parker, Coltrane und so weiter erzählten, neben anderen Arten von Musik aus Afrika, Asien und so weiter. Ich wollte herausfinden, was diese Geschichten waren und wie sie musikalisch erzählt wurden.

Das half mir eine Menge, denn ich begann an diesem Punkt, mich auf das „Warum“ und das „Was“ dessen, was ich zu sagen versuche, zu konzentrieren, und der „Wie“-Teil erledigte sich gewissermaßen von selbst. In meinen sehr frühen Jahren konzentrierte ich mich mehr auf Rhythmen, Melodien, Harmonien, Formen, Phrasierung und solche Dinge . Aber selbst da entdeckte ich schließlich, dass es eine Verbindung gab zwischen damals, als ich intuitiv herausfand, was und wie ich spielen wollte, und dieser späteren Periode, in der mich bei dem, was ich zu sagen versuche, mehr der Teil der Botschaft beschäftigt. Und die Verbindung war ich! Ich meine, die Geschichte, die ich zu erzählen versuchte, war in mir und dasselbe „Ich“ war es, was von den verschiedenen Rhythmen, Melodien und so weiter angezogen wurde, als ich mich kreativ ausdrückte. Der gemeinsame Nenner war, dass ich aufrichtig zu mir selbst bin, immer so aufrichtig wie möglich. Das ist keine kleine Sache, denn normalerweise hindert uns Angst daran, ehrlich zu sich selbst zu sein.

Was die Kompositionen anbelangt, so habe ich immer Songs über irgendetwas geschrieben. Es war also immer ein Thema zur Hand. Letztlich gibt es für mich zwischen Komposition und Improvisation keinen Unterschied. Ich betrachte Improvisation als „spontane Komposition“. Es ist einfach eine Frage der Methode des Gestaltens. Spontane Komposition erfordert, dass man die Fähigkeit entwickelt, Dinge in Echtzeit, im Moment zu gestalten. Man muss also Fähigkeiten entwickeln, die dieser Aufgabe entsprechen. Die Dinge, die ich spontan gestalten möchte, sind aber nicht anders als die Dinge, die ich durch vorgefasste Komposition gestalten möchte. Viele meiner so genannten vorgefassten Kompositionen beginnen als spontane Kompositionen und ich notiere sie später (oder auch nicht). Woran ich eine Menge arbeite, das sind die klanglichen Formen (Rhythmik, Melodik, Harmonik, Tonalität, Formen und so weiter), die die Symbole in meiner Symbolsammlung bilden, und das ist die Grundlage meiner musikalischen Sprache. Dann arbeite ich daran, diese Formen so zu verinnerlichen, dass ich sie – oder ähnliche – spontan aus dem Gefühl heraus hervorbringen kann. Ich wähle aber Formen nicht einfach zufällig oder einfach nach dem, was ich hören möchte oder so. Die Formen sind ein großer Teil von dem, was ich sagen möchte, da sie selbst die klanglichen Symbole sind, die diese mehrschichtigen Botschaften tragen. Da ich schließlich in einer Gruppensituation arbeite, ist es wichtig, dass die Leute in meiner Gruppe einiges an internalisiertem Verständnis dafür haben, wie man diese Strukturen spontan hervorbringt, sodass wir alle spontan eine Komposition schaffen können. Es geht mir nicht bloß um mein Solo, sondern um das Komponieren klanglicher Formen, die eine Geschichte erzählen. Da das Instrument, das ich spiele (Saxofon), ein monophones Instrument ist, muss ich mit anderen Instrumenten zusammenarbeiten, um mehrere Farben zu erzeugen. Die anderen Musiker müssen somit das Empfindungsvermögen haben, das erforderlich ist, um das zu begleiten. Und dafür gibt es keinen anderen Weg, als die Fähigkeit zu trainieren, das spontan zu tun. Da sich die Details der Geschichte immer verändern, spreche ich hier über ein veränderliches Konzept, eines, das ständige Anpassung erfordert, während die Ideen wachsen. Das braucht Zeit, aber wir Menschen sind eine sehr anpassungsfähige Spezies.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Original auf der Internetseite The M-BASE blog, Internet-Adresse: https://mbase.wordpress.com/2007/08/04/the-nexus-of-a-musical-language-and-jazz/

 

 

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