Mit meiner Vorliebe für die kreative, afro-amerikanische Jazz-Tradition liege
ich nicht im Trend. Eine Bekannte von mir meinte, ich wäre da wohl „aus
der Zeit gefallen“.
Meine Wertschätzung für diese Kultur wurde vor vielen Jahren geweckt – von Joachim-Ernst Berendts Jazzbuch und weiterer Jazz-Literatur, von Radiosendungen und eindrucksvollen Konzerten: des Trompeters Hannibal Marvin Peterson, des Art Ensembles of Chicago, von Sun Ras Arkestra, Archie Shepp, Elvin Jones Band, Dewey Redman, Ornette Colemans Prime Time und so weiter. Das war alles präsent. Ich wollte die neuesten, spannendsten Entwicklungen mitbekommen, hörte die schrägsten Free-Jazz-Sachen, aber auch funkige und soulige Musik, alles Mögliche.
HÖRBEISPIEL: Arthur Blythe: Bush Baby (1980)
In den 1980er Jahren inszenierte der junge Trompeter Wynton Marsalis die jahrelange Kontroverse zwischen Traditionalisten und Avantgardisten. Die schrägen, avantgardistischen Spielweisen hatten sich in meinen Ohren bereits weitgehend erschöpft, klangen zunehmend eintönig und lähmend. Nun wies Wynton Marsalis noch dazu darauf hin, dass vieles, was „Free-Jazz“ und „Fusion“ genannt wird, bei Weitem nicht an die musikalische Raffinesse früherer Meister herankommt. Seine traditionalistische Richtung wiederum gelangte nicht wesentlich über das Nachahmen von Stilen hinaus, die andere in der Vergangenheit als ihre persönliche Ausdrucksweise entwickelt hatten.
Wynton Marsalis engagierte den älteren Saxofonisten Joe Henderson für ein Album, das 1991 erschien, und sprach in den höchsten Tönen über ihn. Der äußerte sich umgekehrt hingegen kritisch. Als herausragende Trompeter erwähnte er Kenny Dorham und Lee Morgan, die beide schon lange nicht mehr lebten. In der klassischen Musik sei Wynton Marsalis offenbar einer der besten Trompeter, aber im Jazz müsse er sich erst noch entwickeln.1) Damals war Wynton Marsalis bereits der meist-besprochene Jazz-Musiker – für die einen der strahlende Trompeten-Virtuose, der echte Jazz-Qualität zurückbrachte, für andere ein erzkonservativer Polemiker und rücksichtsloser Karrierist.
HÖRBEISPIEL: Kenny Dorham: Summertime (1963, mit Joe Henderson)
Die Kontroverse um Wynton Marsalis machte deutlich, dass es in der Musik keinen Fortschritt wie in der Technologie gibt, in der das neueste Modell stets das höchstentwickelte ist. Die Free-Jazz-Bewegung eröffnete neue kreative Möglichkeiten, verlor aber viel an Meisterschaft und Musikalität. Die jungen Traditionalisten holten Einiges davon zurück, opferten aber Kreativität und persönlichen Ausdruck. Charlie Parker erreichte vor langer Zeit in all dem einen Höhepunkt – in Kreativität, persönlichem Ausdruck, Meisterschaft, Musikalität. Seine Musik ersetzt jedoch nicht jeden anderen Beitrag zu dieser Musiktradition. Mein Blick auf die Jazz-Geschichte veränderte sich. Sie erschien nicht mehr als überholte Vergangenheit, sondern als weites Neuland, in das ich meine musikalische Entdeckungsreise ausdehnen konnte.
Zunächst beschäftigte mich besonders die Entwicklung von Miles Davis und das führte zu weiteren bedeutenden Musikern. Ich las eine Menge, gelangte damit in aufregende Welten, zurück bis zu den Anfängen des Jazz und erlebte die Meister aller Epochen als aktuell. Natürlich waren ihre Lebensverhältnisse ganz anders als meine, aber ihre Musik ist gerade auch deshalb so reizvoll, weil sie in eine andere Kultur führt und in ihrer Art großartig belebt – über alle Distanzen und Zeiträume hinweg.
Kürzlich stieß ich auf eine alte Filmaufnahme von der Count-Basie-Band mit dem Sänger Joe Williams. Ist man ein wenig mit Blues vertraut – was für ein tieferes Jazz-Verständnis unerlässlich ist –, dann klingt Joe Williams zeitlos hinreißend. Dasselbe gilt für die Bigband-Sounds der Count-Basie-Band. Bigbands spielten in der Jazz-Geschichte eine große Rolle und entwickelten vielfältige, ausgefeilte, lebendige Sounds. Damit bildete Count Basies Band einen idealen Background für Joe Williams Gesang.
HÖRBEISPIEL: Count Basie & Joe Williams: Every Day I Have The Blues (1955)
So spannend die Entdeckungsreise durch die Jazz-Geschichte ist, so spannend ist auch die Frage, wie diese Geschichte weitergeht. Gelingt es Musikern in der Gegenwart, ein neues Kapitel hinzuzufügen, in ähnlicher Qualität wie die Meister der Vergangenheit? Ist die kreative Kraft dieser speziellen Kultur noch intakt? Tatsächlich entdeckte ich um 1990 mit Steve Colemans Musik eine Weiterentwicklung, die mich noch mehr faszinierte als alles davor – mit ihren raffinierten Rhythmen, brillanten melodischen Linien und lässigen Sounds. Zusätzlich verschafften mir die vielen Erläuterungen Steve Colemans eine unschätzbare Vertiefung meines Verständnisses für diese Musikkultur.
Zum Beispiel hörte ich mir in Erinnerung an mein erstes Jazz-Konzert wieder einmal die Schallplatte von Hannibal Marvin Peterson2) an, die ich damals gekauft hatte. Ein Stück beginnt mit einem Schlagzeugspiel, das mich im Konzert besonders beeindruckte.
HÖRBEISPIEL: Hannibal Marvin Peterson: Soul Brother (1975)
Den Begleittext zur Schallplatte verfasste Joachim-Ernst Berendt. Er erklärte, Hannibal Marvin Petersons Solo in diesem Stück sei eines der intensivsten je aufgenommenen Trompetensoli. In einer Passage wechsle er mit einem Ruf-und-Antwort-Spiel zwischen traditionelleren Phrasen und „jubelnden Schreien“ hin und her. Er sei der wichtigste neue Trompeter im Jazz und endlich wieder einmal einer, der „keine Angst hat vor dem strahlenden, blechernen Klang seines Instruments“. Das begeisterte mich.
HÖRBEISPIEL: Hannibal Marvin Peterson: Soul Brother (1975)
Heute finde ich dieses Trompetenspiel schwerfällig, grobschlächtig, aufpeitschend durch wilde Klänge, aber ohne spannende melodische Gestaltung. Steve Colemans Erläuterungen brachten mir den Trompeter Woody Shaw nahe.
HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: Other Paths (1979)
Schon, bevor Steve Coleman bekannt wurde, mochte ich ein Solo von Woody Shaw, das ich auf einer Schallplatte habe. Aber ich beachtete ihn nicht weiter, weil er in Joachim-Ernst Berendts Jazzbuch als traditioneller Musiker erschien. Universitätsprofessor Ekkehard Jost zählte ihn zu einem konservativen Lager, das eine breitere Anerkennung des „Free-Jazz“ behindere, den er als den „zeitgenössischen“, „gegenwartsbezogenen“, fortschrittlichen Jazz-Stil betrachtete – selbst noch, als die Free-Jazz-Bewegung längst abgeklungen war.3) Wilde Klänge anstelle rhythmisch-melodisch-harmonischer Qualitäten, das ist ein fragwürdiger Fortschritt.
Von Steve Coleman lernte ich dann: In Wahrheit war Woody Shaw der bislang letzte Innovator des Jazz-Trompetenspiels.4) Das Grundkonzept seiner Musik folgte weitgehend Vorgängern wie McCoy Tyner5), aber auf der Trompete gestaltete er neuartige, fabelhafte Melodielinien.
HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: Blues for Ball (1978)
Seit jeher wird im Jazz mit besonders ausdrucksvollen Klangfarben gespielt und die werden primär wahrgenommen. Was die Meister so herausragend macht, das sind aber ihre rhythmisch-melodischen Linien. Um sie zu verfolgen, ist ein wenig Vertrautheit mit ihrer musikalischen Sprache erforderlich und so entwickelt sich ein Gespür für ihre Linien erst allmählich.
Beeindruckt ein Solist nur durch Klangfarben, dann empfinde ich das heute so, als würde jemand mit eindrucksvoller Stimme wenig Interessantes sagen. Ein lebendiger Ausdruck ist mir wichtig, aber eine Art inhaltliche Aussage sehe ich vor allem in den rhythmisch-melodischen Linien. Steve Colemans Erläuterungen waren für mich in dieser Hinsicht sehr bereichernd, unter anderem, indem sie mir einen tieferen Zugang zu Charlie Parkers Musik verschafften.
Ein alter Saxofonist, der Charlie Parker noch live erlebte, Charles McPherson, schwärmte von Charlie Parkers Kunst, in langen musikalischen Sätzen eloquent zusprechen und die Sätze in einem logischen Fluss miteinander zu verbinden.6)
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: On A Slow Boat To China (1949)
Charles McPherson wies weiters darauf hin, dass Charlie Parkers Kunst weit
über seine technische Meisterschaft hinausging. Er habe die komplexe
menschliche Wesensart in tiefgehender Weise ausgedrückt. So sei er einer der
größten Balladen-Spieler aller Zeiten gewesen, ebenso einer der größten
Blues-Spieler. Charlie Parker habe die Subkultur, aus der er kam, mit
vielfältigen intellektuellen Interessen verbunden, was eine großartige
Kombination ergeben habe.7)
Der jüngere Saxofonist und Jazz-Hochschul-Direktor Rudresh Mahanthappa sagte:
„Jüngere Leute glauben oft, wir würden heute alles besser machen. Aber in
Wahrheit spielt niemand besser als Charlie Parker. Vielleicht erweitert sich
das Vokabular irgendwie, aber es wird nie besser." Charlie Parkers Rhythmus,
seine Phrasierung, seine Melodielinien, alles an seinem Saxofon-Spiel sei
genauso modern wie das, was heute oder morgen gespielt wird.8)
HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Bird Of Paradise (1947)
Steve Colemans Erläuterungen vermittelten mir die hohe Wertschätzung seiner
Tradition für kreative Musiker, die eine eigene musikalische Sprache
entwickelt haben – eine persönliche, ausdrucksstarke, meisterhafte, im Sinn
dieser Kultur. Steve Coleman gelang das mit seinem Saxofon-Spiel und er ist
einer der seltenen Innovatoren, die für ihre Musik auch ein neues Grundkonzept
schufen. Dazu verband er eine Reihe von Einflüssen – die Grooves der
Funk-Musik, mit der er in einem afro-amerikanischen Umfeld aufwuchs,
afrikanische Trommelmusik, Anregungen aus dem Jazz-Bereich – und daraus formte
er ein eigenes, hochentwickeltes Antriebssystem. Mehr dazu in einem anderen
Video. Ein Link steht unten.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: 9 to 5 (2001)
Steve Colemans Musik begeistert seit Jahrzehnten besonders in Konzerten eine
Menge Leute, viele junge, und nirgendwo sehe ich eine Entwicklung, die auch
nur annähernd an die rhythmisch-melodische Raffinesse und Kraft seiner Musik
herankommt. Eine entsprechende Würdigung und Unterstützung blieb aus und ist
weniger denn je zu erwarten. Für einen Meister wie ihn – einen kreativen
Meister einer afro-amerikanischen Subkultur – besteht im etablierten
Jazz-Betrieb offenbar wenig Empfänglichkeit. Gefördert werden glänzende
Jazz-Hochschul-Absolventen.
Das Nachahmen früher entwickelter Stile, wie es in den Schulen trainiert wird,
fand ich schon an Wynton Marsalis Szene nicht überzeugend und wenn
Jazz-Schulen nun zu Kreativität und Offenheit anregen, verwässert das nur noch
dazu. Bereits ein Großteil der neueren Jazz-Produktionen enthält nichts mehr
vom Charakter der Musiktradition, die von Louis Armstrong in den 1920er Jahren
bis zu Steve Coleman in der Gegenwart reicht. Selbst wenn die Musik aus den
Schulen aufgrund von Nachahmung oberflächlich ähnlich wie die originale
klingt, ist sie von einem ganz anderen Geist erfüllt.
Geht es nicht darum, bei Events dabei zu sein, sondern echten, starken Jazz zu
hören, dann ist die heutige Jazz-Szene der Schulabsolventen entbehrlich. Die
Musik der Meister ist in einer Fülle verfügbar, die die Hörkapazität der
meisten Jazz-Interessierten weit übersteigt. Mit einer Vorliebe für diese
Musik kann man sich mitunter vereinzelt fühlen, aber man „fällt nicht aus der
Zeit“. Und rund um den Globus gibt es eine Menge Anhänger dieser
unübertrefflichen und unersetzlichen Musikkultur.
HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Spontaneous All (2024)
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