Entlang der Linie von Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane und
Steve Coleman können weitere bedeutende Musiker platziert werden. Ich nenne
einige Beispiele und beginne bei Louis Armstrong. Er wurde im Jahr 1901
geboren und entwickelte sich in einer afro-amerikanischen Subkultur von New
Orleans. Seine richtungsweisenden Aufnahmen der 1920er Jahre machte er dann
jedoch in Chicago. Dort arbeitete er unter anderem mit dem Pianisten Earl
Hines zusammen. Der war ein herausragender Vertreter einer längeren Tradition
des improvisierten, rhythmischen Klavierspiels. Auch Duke Ellington kam aus
dieser Klaviertradition und entwickelte damals in New York einen
Bigband-Jazz, indem er Spielweisen aus New Orleans in seine
Tanzorchestermusik einarbeitete. In den 1930er Jahren brachte Count Basie
eine besonders stark swingende Variante des Bigband-Jazz von Kansas City
nach New York. Einige Jahre später zog Charlie Parker von Kansas City nach
New York. Dort hörte er unter anderem den älteren Pianisten Art Tatum, der
der unübertreffliche Meister der erwähnten Klaviertradition war und Charlie
Parker beeindruckte. Parker befreundete sich mit Dizzy Gillespie, einem
feurigen Trompeter, der ebenfalls neue musikalische Wege erkundete.
Gillespies Kollege Thelonious Monk entwickelte einen sehr individuellen
Klavierstil voller Dissonanzen, der dennoch auf bezaubernde Weise stimmig
wirkt. Miles Davis wurde als Trompeter der Charlie-Parker-Band
bekannt. Später leitete er selbst einflussreiche Bands und berührte mit
seiner Ästhetik immer wieder ein großes Publikum. In den 1950er Jahren
gehörte seiner Band zunächst Sonny Rollins an, der damals angesehenste Tenor-Saxofonist
der Generation nach Charlie Parker, und dann wurde John Coltrane als
Tenor-Saxofonist der Miles-Davis-Band bekannt. Ende der 1950er Jahre tauchte der Saxofonist Ornette
Coleman auf, der sich ebenfalls an Charlie Parker orientierte, aber eine
urwüchsige und unkonventionelle Herangehensweise hatte. Damit wurde er zum
Initiator jener neuen Bewegung, die Free-Jazz genannt wurde. Auch Coltrane und Sonny Rollins
bezogen von ihm Anregungen, als sie nach Erweiterungsmöglichkeiten für ihre
Musik suchten. Allerdings war Ornette Coleman nie ein Meister der
Jazz-Tradition und seine Bewertung blieb zwiespältig.
Entlang der Armstrong-Parker-Coltrane-Steve-Coleman-Linie kann man viele weitere Musiker hinzufügen, die mehr oder weniger mit dieser Linie verbunden sind und in Bezug zu ihr einen unterschiedlichen Stellenwert haben. Berücksichtigt man auch weiter entfernte Musiker, so entfaltet sich ein breites Bild der Jazz-Geschichte. Die Linie gibt der gesamten Geschichte Konsistenz und verhindert, dass man bei der Betrachtung der Jazz-Entwicklung in eine Sackgasse gerät. Zum Beispiel verstand Ekkehard Jost – ein deutscher Jazz-Kritiker und Musikwissenschaftler – Free-Jazz als Gipfel und Endpunkt der Jazz-Entwicklung, sodass er den Jazz schließlich in einer tiefen Krise sah.1) Behält man hingegen die Linie im Auge, dann ist Free-Jazz lediglich eine Ausweitung des Jazz-Spektrums in extreme Bereiche.
Die Darstellung der Jazz-Geschichte anhand bedeutender Personen ist viel realistischer und lebendiger als die Einteilung des Jazz in die so genannten „Stile“, die in der Jazz-Literatur immer wieder genannt werden – Swing, Bebop, Cool-Jazz, Free-Jazz, Fusion und so weiter. Solche Begriffe können manchmal nützlich sein zur Bezeichnung von Strömungen, Trends, Musiker-Szenen und Wellen des Musikgeschäfts. Wenn man sie jedoch als Stile versteht und mit ihnen den Jazz kategorisiert, dann sind sie irreführend. Mehr dazu auf meiner Website. Ein Link steht unter dem Video.2)
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