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Der Alt-Saxofonist Steve Coleman übersiedelte im Mai 1978 als 21-Jähriger per Autostopp von Chicago nach New York, wo er zunächst einige Monate lang in einer Jugendherberge übernachtete und als Straßenmusiker Geld für das Nötigste verdiente. Nach drei Monaten wurde er in das Thad Jones/Mel Lewis Orchestra aufgenommen und sammelte dann in vielen weiteren Gruppen (unter anderem in Sam Rivers Bigband und Doug Hammonds Trio) wichtige musikalische Erfahrungen. In den ersten drei Jahren reichte das aus diesen Beschäftigungen bezogene Einkommen für eine Existenz in New York nicht aus und er setzte daher das Spielen auf der Straße fort. Zu diesem Zweck bildete er mit dem Trompeter Graham Haynes, dem Schlagzeuger Mark Johnson und dessen Bruder am Bass eine Band, die vor allem „Hard-Bop“, Standards und Charlie-Parker-Stücke in hohem Tempo spielte. Aus dieser Straßenband entstand um 1980/1981 mit etwas veränderter Besetzung die erste Five-Elements-Band, die in den ersten Jahren nur probte und dann von Coleman unter vielen personellen Veränderungen seine gesamte Laufbahn hindurch fortgeführt wurde.1)
Die in Detroit aufgewachsene Pianisten Geri Allen studierte Jazz sowie Musikethnologie2) und ließ sich 1982 im Alter von 25 Jahren in einem überwiegend von Afro-Amerikanern bevölkerten Teil3) des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn nieder, wo die Mieten relativ niedrig waren4). Steve Coleman, der bereits dort wohnte, hatte schon zuvor von ihr gehört, dass sie „alles“ spielen könne, auch alle Coltrane-Stücke, aber auch ihre eigene Sache habe. Er nahm Kontakt mit ihr auf, sie begannen, miteinander zu arbeiten, und er fand ihre Stücke sowie ihre eigenständige Herangehensweise kreativ und überzeugend.5) Sie hatten wie die anderen jungen Musiker, mit denen sie zusammenarbeiteten, nur geringe Einkünfte und oft wenig zu essen. Aber in musikalischer Hinsicht war ihre damalige Situation nach Colemans Bericht aufregend.6) – Ebenfalls im Jahr 1982 kam die 26-jährige Sängerin Cassandra Wilson, die im südlichen Bundesstaat Mississippi aufgewachsen war, nach Brooklyn. Sie war durch ihren Vater, einem Gitarristen, bereits früh mit Jazz in Berührung gekommen, sang und spielte jedoch zunächst Folksongs und dann während ihres Studiums der Massenkommunikation populäre afro-amerikanische Unterhaltungsmusik, bevor sie sich dem Jazz-Gesang zuwandte.7) Als Coleman in New York auf einer Veranstaltung zu Ehren Charlie Parkers spielte, trat sie auf die Bühne, um im Stück Cherokee mitzusingen. Coleman war von ihrer dunklen, ausdrucksstarken Stimme sowie ihrem Sinn für Form beeindruckt. Sie habe in jedem Stück stets gewusst, wo sie war.8) – Greg Osby zog im Jahr 19839) nach Brooklyn, war vier Jahre jünger als Coleman und spielte ebenfalls Alt-Saxofon. Er suchte nach neuen musikalischen Wegen und innovativen Kollegen10), nachdem er in seiner Heimatstadt St. Louis in Missouri bereits ab dem Alter von 14 Jahren afro-amerikanische Unterhaltungsmusik gespielt hatte11) und schließlich am Berklee College of Music Jazz studierte12). Er fand in Coleman einen Gleichgesinnten und sie entwickelten eine dauerhafte freundschaftliche Beziehung.13)
Aus Colemans Sicht waren die 1980er Jahre eine äußerst konservative Periode. All die jungen Musiker, die damals als „Young Lions“ in den Vordergrund gestellt wurden, seien super-konservativ gewesen. Wenn man etwas Kreatives, Experimentelles hören wollte, habe man sich Musiker wie Henry Threadgill anhören müssen, die aus den 1960er und 1970er Jahren kamen. Die jungen Musiker hätten einfach versucht, Geld zu machen. Er habe hingegen nicht etwas machen wollen, was bereits gemacht war. Es gebe eine großartige Aussage von Miles Davis, die er bis heute in Gedanken vor sich habe. Davis habe gesagt, er wolle lieber scheußlich, aber nach sich selbst klingen als gut und nach jemand anderem. Von all den älteren Musikern, die Colemans Vorbilder waren, habe er gelernt, dass man seinen eigenen Sound finden muss. Max Roach habe ihm gesagt: „Ihr könnt nicht machen, was wir machten. Ihr müsst eure eigene Sache machen!“ Das hätten diese älteren Musiker als sehr wichtig betrachtet.14) – Auch Osby wollte sich nicht den zahlreichen „Young Lions“ anschließen, die sich auf die Bewahrung und Beherrschung älterer Spielweisen des Jazz konzentrierten und vom erfolgreichen Trompeter Wynton Marsalis repräsentiert wurden. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, sowohl ältere als auch gegenwärtige Entwicklungen als Bausteine oder Sprungbrett für neue, eigene Konzepte zu nutzen,15) wobei er auch seine musikalischen Wurzeln in afro-amerikanischer Unterhaltungsmusik nicht verleugnen wollte16). Um 1984 habe er gemeinsam mit Coleman etliche Musiker nach ihrem persönlichen Zugang zur Musik befragt, die Gespräche aufgenommen und festgestellt, dass viele von ihnen interessante, inspirierende Konzepte hatten, die sie bei Auftritten jedoch nicht einsetzten, da sie vom Musikgeschäft nicht erwünscht waren. Osby fand, dass die Jazzszene weitgehend von der Musikindustrie diktiert wurde. Zwar habe die Industrie zum Beispiel auch in der Zeit der Swing-Ära der 1930er Jahre die Führung übernommen, doch hätten die Musiker sich damals zusammengetan und die Szene verändert, indem sie die „Bebop“ genannte Musik hervorbrachten. Das habe er, Coleman und andere ihrer Clique in den 1980er Jahren ebenfalls machen wollen.17)
Die konservative Richtung der „jungen Löwen“ war eng mit einer Verschulung der Jazzausbildung verknüpft, die seit den 1970er Jahren um sich griff und in der das Berklee College of Music in Boston eine Pionierrolle innehatte. Während sich in früheren Zeiten angehende Jazzmusiker selbständig durch Ausprobieren, Nachahmen der in Klubs spielenden Vorbilder und Abhören von Schallplatten entwickelten, lernten nun zunehmend mehr junge Musiker in formellem Unterricht und aus Büchern, Jazz zu spielen. Marvin Smitty Smith, der selbst in Berklee studiert hatte, sagte: „Sie formulieren heute alles, etwa nach dem Motto: Spiele Phrase 37, kombiniert mit den Phrasen 152, 338 und 1012, und dann hast du eine perfekte Linie für die ersten vier Takte von All The Things You Are.“ Das sei nicht die Art, wie sich diese Musik entwickelte. Sich selbst entdecken, das könne niemand mit einem teilen. Es sei eine große, aufregende Herausforderung, denn man müsse sich selbst auf die Suche machen.18) – Coleman, der sich das Improvisieren noch autodidaktisch und im Kontakt zu alten Meistern in Jazzklubs beibrachte19), erzählte, dass Osby, Brandford Marsalis20), Jeff „Tain“ Watts und Marvin Smitty Smith alle rund vier Jahre jünger als er und die ersten ihm bekannten Musiker waren, die in Berklee studierten. Sie seien nicht lange dort gewesen, aber er habe dennoch Anfang der 1980er Jahre, als sie nach New York kamen, darauf geschworen, den Unterschied zwischen Musikern, die auf eine solche Schule gingen, und anderen hören zu können – selbst wenn sie nur ganz kurz dort studierten.21)
Steve Colemans Five-Elements-Band konnte sich im Jahr 1983 erste Engagements in kleinen, abgelegenen Klubs in Harlem und Brooklyn verschaffen.22) Er trat damals auch in die gerade gegründete Band des zehn Jahre älteren Bassisten Dave Holland ein, der als ehemaliger Begleiter von Miles Davis weithin bekannt war. Bereits im Oktober 1983 konnte Holland das erste Album23) seiner neuen Band aufnehmen. Hollands Musik war vom Free-Jazz beeinflusst und neigte daher zu wenig gebundenen, relativ „freien“ Improvisationen über einem swingenden Beat.24) Coleman hingegen legte auf starke Strukturierung und eine rhythmische Basis aus konkreten Figuren mit funkigem Charakter Wert.25) Holland war an den Konzepten, die Coleman mitbrachte, interessiert und ließ eine entsprechende graduelle Veränderung seiner Musik zu, die den Schlagzeuger Marvin „Smitty“ Smith in die Band brachte.26) Smith war fünf Jahre jünger als Coleman, konnte mit Colemans Konzepten brillant umgehen und leistete später in dessen Five-Elements-Band einen entscheidenden Beitrag. Zunächst hatte Coleman weiterhin nur wenig Gelegenheit, mit seiner eigenen Band aufzutreten.27) Doch erlangte Hollands Band bald eine gewisse Popularität und die brachte mit sich, dass Coleman ab ungefähr 1985 durch vermehrte Aufträge erstmals ein ständiges Einkommen bezog und das Angebot einer deutschen Musikproduktionsfirma 28) erhielt, ein Album aufzunehmen. Allerdings erwartete die Firma von ihm eine ähnliche Musik wie die von Holland, lehnte „elektrische“29) Instrumente ab30) und betrachtete die Five-Elements-Musik als unverkäuflich. Coleman musste daher in Abstimmung mit der Firma eine andere Gruppe zusammensetzen, die für ihn einen Kompromiss darstellte. Er wählte als Pianistin Geri Allen, die durch ihr erstes, im Februar 1984 von einer kleinen deutschen Firma31) aufgenommenes Album (The Printmakers) bereits bekannt war. Außerdem gehörten Graham Haynes und Mark Johnson aus der Five-Elements-Gruppe, Marvin Smitty Smith sowie der Bassist Lonnie Plaxico dazu. Cassandra Wilson war an einem Stück des schließlich im März 1985 aufgenommenen Albums (Motherland Pulse) ebenfalls beteiligt. Die Veröffentlichung des Albums wurde dann jedoch von einer soeben neugegründeten kleinen deutschen Firma32) übernommen33), deren Inhaber auch an den jungen Musikern aus Colemans Umfeld interessiert war, sodass im Dezember 1985 Cassandra Wilson und 1987 Greg Osby ihre ersten Alben34) bei dieser Firma aufnehmen konnten. Colemans Album erhielt ausreichend positive Resonanz, sodass der Firmenleiter schließlich damit einverstanden war, nun mit einem weiteren, im Jänner 1986 aufgenommenen Album (On the Edge of Tomorrow) die Five-Elements-Band vorzustellen und dabei die Produktion Coleman zu überlassen. Im nachfolgenden Album World Expansion (aufgenommen im November 1986) nahm die Firma nach Colemans Bericht eine eigenmächtige Änderung der aufgenommenen Musik vor35), worauf Coleman die Zusammenarbeit empört beendete.36) Auch wenn diese drei Veröffentlichungen durch ein kleines europäisches Label noch keinen Durchbruch in den USA bewirken konnten, so nahmen durch sie doch ab 1985 Colemans Bekanntheit und damit auch seine Auftrittsmöglichkeiten zu.37) Die Laufbahnen von Geri Allen, Cassandra Wilson und Greg Osby kamen ebenfalls allmählich in Schwung.
Coleman, Allen, Wilson, Osby, Marvin Smitty Smith, die Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington, der Posaunist Robin Eubanks und andere afro-amerikanische Musiker bildeten nach Osbys Bericht ab Mitte der 1980er Jahre eine Clique von ungefähr 15 Personen, die sich austauschten und zusammenarbeiteten.38) Sie trafen sich ein- oder zweimal in der Woche in ihren Kellern oder Wohnungen und besprachen ihre Musik. Wenn einer von ihnen ein Treffen mit einem Geschäftsmann oder Anwalt oder eine Aufnahme-Session im Studio hatte, berichtete er danach eingehend darüber, sodass alle von den Erfahrungen jedes Einzelnen profitierten. Auch legten sie Geld zusammen, bestritten gemeinsam Studiokosten, organisierten selbst Konzerte und entwickelten ein Lehrprogramm für Studenten.39) Vor allem schrieben sie eigene Stücke, spielten sie miteinander, diskutierten neue Konzepte und verwendeten unterschiedliche Metren, harmonische Strukturen und Stilelemente.40) – Nach Colemans Aussage gründeten sie eine eigene Agentur, die sie Musicians Refferal Committee (MRC) nannten und die ihnen mehr Engagements verschaffen sollte. Sie hatten ein Manifest, in dem sie ihre Ziele festlegten, und ihr Hauptanliegen sei gewesen, neue Musik zu entwickeln. Eine ihrer Regeln habe verlangt, dass man zu den Treffen kreative Musik mitzubringen hat, und das habe so manchen verscheucht.41) – Geri Allen erzählte, dass das Zusammenwirken unter ihnen anfangs sehr organisch war. Sie seien alle ungefähr gleich alt gewesen, versuchten über die Runden zu kommen und seien ständig am Weg gewesen, um Musik zu hören. Sie hätten alle komponiert, experimentiert, schwierige Musik vom Blatt gespielt, einander herausgefordert, um ihre Professionalität zu steigern, und hätten alles einbezogen, was sie mochten. Mit der Kombination unterschiedlicher Metren habe sie sich allerdings schon zuvor beschäftigt und es sei dabei darum gegangen, diese ungewöhnlichen Rhythmen so zu gestalten, dass sie natürlich klingen.42)
Vor allem durch die in Europa gemachten Aufnahmen wurden amerikanische Musikjournalisten auf die Gruppe junger Jazzmusiker in Brooklyn aufmerksam und sie begannen, sie als „Brooklyn-Mannschaft“ (oder in ähnlicher, auf diesen Stadtbezirk bezogener Weise) zu bezeichnen.43) Osby erzählte, dass sie das im Keim ersticken wollten. Es sollten nicht andere einen Namen festlegen, nicht einen so lächerlichen wie „Bebop“, den Musiker verabscheuten. Deshalb beschlossen sie, ihre Musik „M-Base“ zu nennen. Das sei eine Abkürzung für „Macro—Basic Array of Structured Extemporization“ und meine, grob gesagt, eine große Basis, eine große Gruppe von Musikern, deren Hauptziel es ist, voneinander zu lernen und neue Methoden der Komposition sowie neue Grundlagen für die Improvisation hervorzubringen.44) – Coleman, der sich die Bezeichnung „M-Base“ ausgedacht hatte45), stellte ihre Einführung ähnlich dar: Jemand habe in einer Zeitschrift ein Interview geschrieben und versucht, sie die „Brooklyn-Acht“ oder ähnlich zu nennen.46) Sie stammten jedoch aus verschiedenen Gegenden, überwiegend aus dem Mittleren Westen, Städten wie Detroit, Chicago und St. Louis, und wählten Brooklyn bloß aus wirtschaftlichen Gründen als Wohnort.47) In Manhattan zu wohnen, konnten sie sich einfach nicht leisten. Auch gab es in Brooklyn überhaupt keine Jazzlokale.48) Die damalige Entwicklung einer Kunstszene in Brooklyn fand nur zufällig zur gleichen Zeit statt. Seine Musik sei in keiner Weise etwa mit dem verbunden gewesen, was Spike Lee49) machte. Sie waren nur ungefähr im selben Alter und wohnten zufällig in unmittelbarer Nachbarschaft.50) Nach der Benennung als Brooklyn-Gruppe in der Presse hätten sich die Musiker zusammengesetzt und seien zum Schluss gekommen, dass sie sich selbst einen Namen geben sollten. Zuvor sprachen sie einfach nur von „ihrem Zeug“. „M-Base“ sei zwar ein komplizierter Ausdruck, aber er habe auf damals bestmögliche Weise ausgedrückt, was sie zu machen versuchten. „Base“ stehe für „Basic Array of Structured Extemporization“ und damit für ihr Streben nach ihrer eigenen musikalischen Sprache der Improvisation und Strukturierung. Außerdem wollten sie, dass ihre Sache wächst und groß wird, und dieses Anliegen werde durch das „M“ als Abkürzung für „Macro“ ausgedrückt.51)
Im Jahr 1987 sagte Coleman in einem Interview, er nenne seine Musik M-Base, nicht Jazz, denn die Leute stellten sich üblicherweise unter Jazz eine Musik wie die von Grover Washington, von King Oliver, Duke Ellington, Herbie Hancock oder Wynton Marsalis vor und nichts davon klinge wie seine. M-Base sei einfach ein Begriff, der für sie als Gruppe etwas bedeute. Sie hofften, dass M-Base nicht zu einem so starren Begriff wird, dass jeder von ihnen erwartet, für den Rest ihres Lebens nur mehr das zu machen. M-Base solle nicht zu einem so starren Begriff wie Jazz, Funk, Jazz-Funk oder Fusion werden – alles Begriffe, die er hasse.52) Später erklärte er dazu, dass Leute vorgefasste Meinungen davon hätten, was Jazz ist, und dann glauben, sagen zu können: „Oh, das ist nicht die Art, wie Jazz gespielt werden sollte“, oder man spiele keinen Jazz.53)
Im Herbst 1987 bekam Coleman dank der Empfehlung des „jungen Löwen“ Brandford Marsalis, der in seiner Nachbarschaft wohnte54), von der kleinen amerikanischen Musikproduktionsfirma 55) eines Popstars56) das Angebot, mit der Five-Elements-Band ein Album aufzunehmen. Die Firma stellte ihm das größte Budget zur Verfügung, das er „je sah“, und er konnte so lange im Studio arbeiten, wie er wollte – mit dem Ergebnis, dass der Klang dieser Aufnahmen wesentlich besser wurde als der seiner früheren Alben. Allerdings nutzte Coleman die ihm erstmals reichlich zur Verfügung stehende Möglichkeit des (damals noch nicht digitalisierten) Mixens und Editierens so ausgiebig, dass die Aufnahmen nach seiner späteren Einschätzung ein wenig zu glatt gerieten. Außerdem konnte er Gastmusiker hinzuziehen und engagierte unter anderem den Saxofonisten Gary Thomas, der mit Osby befreundet war57) und dann immer wieder mit Musikern der M-Base-Clique zusammenarbeitete. Thomas nahm ab 1987 mit den von Coleman her bekannten deutschen Firmen58) eine Reihe von Alben auf. Er ließ sich jedoch nicht in New York nieder, sondern blieb in seiner Heimatstadt Baltimore59). – Kurz bevor Colemans neues Album (Sine Die) 1987/88 aufgenommen wurde, sprang Coleman für Brandford Marsalis als Bandmitglied des Popstars auf dessen Tour nach Brasilien ein.60) Das verschaffte ihm zusammen mit den Einnahmen aus dem Album einen finanziellen Polster, der es ihm und seiner Five-Elements-Band ermöglichte, die lange Zeit danach bis zu seinem nächsten Album im Jahr 1990 für eine entscheidende Weiterentwicklung seiner Musik zu nützen. Außerdem kam Coleman zugute, dass die kleine Firma den Vertrieb einer großen, internationalen61) in Anspruch nahm, wodurch dieses Album einen wesentlich stärkeren Widerhall in den Musikzeitschriften auslöste als seine früheren Alben.62) Journalisten setzten dabei M-Base häufig weitgehend mit der Musik der damaligen Five-Elements-Band gleich63) und bezeichneten Coleman als Begründer und Führer der in Brooklyn angesiedelten Gruppe. Coleman erklärte später hingegen, er sei in der M-Base-Gruppe zwar hinsichtlich der musikalischen Entwicklung einer der vorantreibenden Leute gewesen, doch hätten sie Wert gelegt, weder einen musikalischen noch einen geschäftlichen Leiter zu haben. Darauf habe er immer wieder hingewiesen und dennoch sei er von Journalisten beharrlich als Gründer und Leiter von M-Base dargestellt worden. Das habe zu Problemen geführt, als andere Gruppenmitglieder von Kritikern und Geschäftsleuten in einer leitenden Funktion wahrgenommen werden wollten, und es sei einer der Gründe, warum die Gruppe später nicht mehr viel zusammenarbeitete.64)
Die Behauptungen einer Führerschaft widersprachen somit dem Selbstverständnis der M-Base-Clique. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass der äußerst aktive, kreative, eloquente und eigenwillige Coleman65) nicht schon früh stärker hervortrat – wenn auch ohne direkten Führungsanspruch. Er schuf nicht nur den Namen M-Base, sondern scheint auch differenziertere Vorstellung von dessen Bedeutung gehabt zu haben als seine Kollegen, wie der Begleittext eines Albums (Anatomy of a Groove) zeigt, das das M-Base Collective im Dezember 1991 und Jänner 1992 aufnahm: Coleman erläuterte darin die Verbindungen von M-Base zu anderen Arten afro-amerikanischer Musik, deren Verbundenheit mit afrikanischen Konzepten sowie einen Zusammenhang von Musik im Allgemeinen mit einer „höheren Logik“ der gesamten Natur, die sich zum Beispiel in Kristallen ausdrücke. Offensichtlich in Abstimmung auf diese Ausführungen sind auf der Vorderseite des Albums übereinandergelegte Kristalle abgebildet. Der Albumtitel scheint ebenfalls von Coleman zu stammen, denn er ähnelt dem Titel eines seiner im Album enthaltenen Stücke (Anatomy of a Rhythm). Osby erklärte in einem kürzeren Beitrag zum Begleittext des Albums, dass es ihm nach seiner Ankunft in New York wichtig war, Gleichgesinnte zu finden, um gemeinsam eine zeitgemäße musikalische Sprache zu entwickeln, und dass er glücklich ist, durch die M-Base-Gruppe mit einigen der inspirierendsten Denkern und Individualisten zusammenarbeiten zu können. Cassandra Wilson schrieb in einem kurzen Text, sie finde mehr und mehr heraus, dass M-Base eine Lebensart ist, und sie fasste ihr Verständnis von M-Base schließlich zusammen, indem sie einen von Coleman verfassten Songtext zitierte. – Colemans zentrale Stellung zeigt sich auch in der Musik dieses Albums, das das einzige des M-Base-Collectives blieb: Die Rhythmusgruppe des Collectives ist die der damaligen Five-Elements-Band, sodass die Musik ein wenig so klingt, als hätte Coleman zu seiner Band einzelne Gastmusik hinzugenommen und einige ihrer Stücke gespielt.
Geri Allen war an diesem Album nicht beteiligt. Sie erklärte im Jahr 2010: Wenn man heute an M-Base denkt, dann sei das definitiv Steve Colemans Konzeption. Er habe sehr spezielle Ideen über Komposition gehabt, sodass seine Stücke einen individuellen Sound hatten – wie es anfangs auch die der anderen hatten. Schließlich sei der Sound sozusagen wesentlich mehr institutionalisiert worden. Sie habe eine fließende Art, die sie gerne in der Musik, im Sound höre und die habe nicht mehr hineingepasst. Das sei einer der Gründe gewesen, warum sie sich entschied, in kreativer Hinsicht weiterzuziehen.66)
GERI ALLEN
Geri Allens erstes Album (The Printmakers, 1984) präsentierte sie im Rahmen eines Piano-Trios67) mit dem älteren68) Schlagzeuger Andrew Cyrill, der in den 1960er und 1970er Jahren vor allem als Begleiter des Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor bekannt wurde, sich aber ursprünglich mit Spielweisen der 1950er Jahre entwickelte und auch an afrikanischen Rhythmen interessiert war. Ihr Begleiter am Bass, Anthony Cox, gehörte wie Allen zu jenen jüngeren69) Musikern, die Einflüsse aus der Free-Jazz-Bewegung organisch mit anderen Elementen verbanden. Allen sagte, es sei ihr immer schon wichtig gewesen, in der Musik Freiheit zu haben. Sie brauche das Gefühl, vielseitig sein zu können, die Möglichkeit zu haben, sich zwischen verschiedenen Arten von Musik hin und her zu bewegen. Sie werde von der Musik vieler verschiedener großer Musiker angezogen und sie verbinde alles in einer Weise, die ihre Freiheit und ihre spezielle Energie als Künstlerin bewahrt.70) – In ihrem ein Jahr später aufgenommenen Album Home Grown sind Allens originelle Stücke71) und ihr virtuoses, individuelles, neuartiges Klavierspiel unbegleitet zu hören. Der wesentlich jüngere72) Pianist Vijay Iyer war als 17-Jähriger von diesem Solo-Album beeindruckt und beschrieb Allens Kunst später auf folgende Weise: Ihre Perspektive sei in der Tradition verwurzelt, zugleich aber auch wagemutig und experimentell gewesen. Ihre Musik habe intensive Polyphonie enthalten, wie afrikanisches Trommeln auf dem Klavier. Ihr Groove sei wirklich stark gewesen, aber variabel und flüssig, manchmal fast sprachähnlich. Sie habe leuchtende Farben hervorgebracht und immer nach sich selbst geklungen. Der noch etwas jüngere73) Pianist Jason Moran entdeckte Allen durch ein Solo, das sie in einem 1988 aufgenommenen Album74) des Schlagzeugers Ralph Peterson spielte, und schilderte seine damaligen Eindrücke später: Er habe in ihrem Spiel neuartige Phrasen gehört, sie habe sicherer als Andrew Hill75) gewirkt, freier als Herbie Nichols76) und entschlossene, aber fremdartige Ideen gespielt, die sich fast vertraut und einladend anfühlten, aber man sei sich nicht sicher gewesen, was es ist. Er sei überzeugt gewesen, dass sie den nächsten Punkt in der Entwicklung des modernen Jazz-Klaviers setzen, den nächsten Schritt in die Zukunft machen wird. Ein weiterer Pianist aus derselben Altersgruppe (Ethan Iverson77)) erlebte als 19-Jähriger Allens Klavierspiel erstmals bei ihrem Auftritt mit dem Bassisten Anthony Cox und dem Schlagzeuger Pheeroan Aklaff im Jahr 1990 in Minneapolis. Es war nach seinen Worten eines der bedeutendsten Konzerte, die er jemals sah. Es sei etwas gewesen, das mit Afrika und Free-Jazz zu tun hatte. Es sei spirituell und zugleich surreal gewesen. Allen scheine über jeden Stil, der sie betraf, nachgedacht und ihn in postmoderner Weise uminterpretiert zu haben – Mary Lou Williams, Herbie Hancock, Eric Dolphy. Sie sei wie ein Chamäleon gewesen.78)
Allens drittes Album (Open On All Sides In The Middle, aufgenommen im Dezember 1986) zeigt eine andere Seite ihrer Kreativität. Sie stellte eine große Band aus Musikern ihrer Heimatstadt Detroit, insbesondere auch aus deren Free-Jazz-Szene79) zusammen und nahm Steve Coleman und den Posaunisten Robin Eubanks aus der M-Base-Clique sowie einen weiteren Perkussionisten hinzu. Die rhythmische Basis wurde nicht von traditionellen Jazz-Rhythmen gebildet, sondern hat zum Teil karibischen Charakter, enthält manchmal einen rockigen Backbeat oder erinnert an Grooves früher Five-Elements-Musik. Dazu erzeugte Allen mit elektrischen Keyboards häufig atmosphärische Klänge. Solo-Improvisationen sind zwar in allen Stücken vorhanden, doch relativ kurz und unspektakulär. Ein Jazz-Journalist meinte, diese Musik sei wenig jazzorientiert, grenze oft nur an Jazz und das Material sei für ein Album Allens leichtgewichtig.80) Der ältere81) Jazz-Sänger Andy Bey sagte hingegen, er sei ein Fan Allens, seit er erstmals Ausschnitte von diesem Album hörte. Er habe das Konzept gemocht, weil es so andersartig war. Sie sei nicht nur als Pianistin großartig, sondern auch im Schreiben von Stücken und im Orchestrieren.82)– In einem Stück des Albums sind Improvisationen eines Stepptänzers zu hören und damit knüpfte Allen an Erfahrungen aus der Zeit ihrer Ausbildung in Detroit an: Ein Mentor Allens war Tänzer und betrieb ein Studio, in dem Tänzer und Musiker manchmal spontan miteinander improvisierten. Sie erzählte, es sei damals „Bebop“ gespielt worden und es habe eine Generation von Leuten gegeben, die aufstand und dazu tanzte. Sie habe geübt, die Wirkung dieses Gefühls in ihrer Improvisation zu haben (sowohl in der Sololinie als auch im Ostinato, das sie verwende) und es der harmonischen Herausforderung gegenüberzustellen.83) Später baute Allen die Zusammenarbeit mit einem Stepptänzer aus, verwendete dabei wiederum elektrische Keyboards und Synthesizer und gab dazu eine Erklärung, die wohl auch das Konzept des Albums Open On All Sides verständlich macht: Die Idee sei, sich mit dem von Afrika bis in die Gegenwart reichenden Kontinuum zu verbinden, durch all die Arten hindurch, in die sich die Musik verwandelte. Sie greife mit ihrer Band die aus Afrika stammende Musik in den Erscheinungsformen all der Gegenden auf, in die „schwarze“ Leute zerstreut wurden (Karibik, Südamerika, Kuba, Brasilien, USA). Die Elektronik verwende sie als zusätzliche Färbung.84) Das Interesse an internationaler „schwarzer“ Musik und Weltmusik hatte sie nach ihrer Aussage mit den Musikern der Detroiter Jazz-Szene gemeinsam85) und auch ihr früheres Studium der Ethnomusikwissenschaft scheint mit dieser kulturellen Ausrichtung in Verbindung gestanden zu sein. Sie sagte, es sei in diesem Studium darum gegangen, wie Musik in einer Gesellschaft funktioniert und welchen Wert sie in den verschiedenen Kulturen der Welt hat. Zum Beispiel integriere die Musik der meisten afrikanischen Gesellschaften alle Künste, insbesondere auch den Tanz. Auf diese Weise werde die gesamte Kultur umfasst und das Publikum entwickle einen lebendigeren Sinn für die Bedeutung der Musik. Auch in ihrer eigenen Realität und Kunst bilde die kulturelle Umarmung der Musik einen wichtigen Teil.86) Im Jahr 1987 trat Allen mit einer großen Band, die sie Open on All Sides nannte, in Detroit auf und sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Live-Musik wieder größeren Stellenwert erhalten solle.87) Das Album vermittelt von all dem jedoch relativ wenig und die musikalischen Konzepte des Albums, insbesondere das von der Rhythmusgruppe bereitgestellte Fundament, waren auch nicht in so anspruchsvoller und bestechender Weise entwickelt wie ihre Klavier-Improvisationskunst, die sie in den beiden vorhergehenden Alben vorstellte.
Geri Allens nächstes (viertes) Album kam mehr als zwei Jahre später (1989) zustande und wurde Twylight genannt. In ihm trat wieder ihr Klavierspiel in den Mittelpunkt. Der Rest der Band ist auf eine Rhythmusgruppe reduziert, die aus Bass, Schlagzeug und in manchen Stücken aus zusätzlicher Perkussion besteht und von Allen wiederum aus Musikern die Detroiter Free-Jazz-Szene rekrutiert wurde. Auch der Musik dieses Albums liegen keine traditionellen Walking-Bass-Rhythmen, sondern eher afrikanisch/karibisch gefärbte zugrunde. Von traditionellen Piano-Trio-Aufnahmen unterscheidet sich das Album auch durch die Klangeffekte, die Allen in etlichen Stücken mit einem Synthesizer erzeugte und die ihre Klavier-Improvisationen einrahmen. Ihre Begleitband mag nicht so schwergewichtig wirken wie in manchen ihrer späteren Aufnahmen, etwa wie jene aus Jack DeJohnette und Dave Holland im Album The Life of a Song (2004), und Allen fand, dass ihr Spiel später reifer und wirkungsvoller war88). Doch hat Twylight einen speziellen Zauber und ein klares persönliches Profil Allens, das später an Kontur verlor.
Jason Moran sagte im Jahr 2006, Allen sei im Begriff gewesen, die „nächste Sache“ zu werden, dann jedoch unverständlicherweise zurückgewichen, und Ethan Iverson ergänzte, Allen spiele nun viel in Herbie Hancocks89) Stil.90) Sie entsprach damit verstärkt dem von Iverson ins Spiel gebrachten91) Vergleich mit einem Chamäleon, auch wenn sie das auf durchaus eigene Weise tat. Diese Entwicklung ist gewiss auch auf die Bedingungen des Musikmarktes zurückzuführen: So interessant die Musik ihrer ersten beiden Alben für junge Jazz-Pianisten auch war, so ist sie aufgrund der Free-Jazz-Anteile doch für Hörer unbequem und auch die komplizierten, repetitiven rhythmischen Figuren entsprechen nicht traditionellem Piano-Jazz. Die in Open to all Sides angestrebte Erweiterung im Sinne afrikanischer Musikkulturen und früherer Erfahrungen Allens im afro-amerikanischen Umfeld erwies sich offenbar ebenfalls nicht als Weg zu einem ausreichend großen Publikum. Im Laufe der 1980er Jahre wirkte sie in vielen unterschiedlichen Bands mit – überwiegend in einem mit dem Free-Jazz verbundenen Bereich92) sowie in dem der M-Base-Musiker93), aber auch zum Beispiel an Aufnahmen des Trompeters Woody Shaw94), des Schlagzeugers Ralph Peterson95) und Wayne Shorters96). Anklang fand sie offenbar vor allem auch durch ihre Beteiligung an Ensembles der „weißen“ Musiker Charlie Haden und Paul Motian, in denen sie sparsam und lyrisch spielte97). Im Jahr 1990 kam ein Vertragsverhältnis zwischen Allen und der 1985 neugegründeten, prestigeträchtigen Musikproduktionsfirma Blue Note Records zustande, das bis ungefähr 1996 bestand und in Allens Musik offenbar eine stärkere Anpassung an geschäftliche Gesichtspunkte nach sich zog98). In ihrem ersten von dieser Firma veröffentlichten Album (The Nurturer, aufgenommen 1990) wurden der Bass und das Schlagzeug von Musikern gespielt, die durch ihre Zugehörigkeit zum traditionsbezogenen Kreis von Wynton Marsalis bekannt waren. Als Trompeter war außerdem der bereits 63-jährige frühere Lehrer Allens beteiligt und als Altsaxofonist ein in der Musikpresse vielgelobter, der Jazztradition verbundener Musiker99) aus Allens Altersgruppe. An ihrem nächsten Album (Maroons, 1992) wirkte bereits ihr späterer Ehemann100), der stark von Miles Davis beeinflusste Trompeter Wallace Roney, mit und ihr darauffolgendes Album (Twenty One, 1994) nahm sie im Trio mit Ron Carter und Tony Williams auf, den berühmten Begleitern von Miles Davis in den 1960er Jahren. – Allen erwähnte später, dass man als Musiker glücklich sein kann, wenn man in der Lage ist, damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und dass das nur möglich ist, wenn man vielseitig und offen ist. Sie sprach auch über das Verbinden mit anderen Leuten in hoch entwickelter Weise. In ihren Augen bestehe die wahre Kraft dieser Musik darin, dass sie durch authentische Verbindungen mit anderen eine Verwandlung bewirken kann.101) Dabei ging es ihr auch um die Verbindung zum Publikum. Sie sagte, ihr Fokus liege nun darauf, sich mit den Leuten zu verbinden, indem sie ihre gesamte musikalische Kenntnis zum Kommunizieren nutze – so wie man alle Worte verwendet, die einem zur Verfügung stehen, und versucht, so klar wie möglich zu sprechen, indem man das richtige Wort im richtigen Moment einsetzt.102) Offenbar gelang es ihr, künstlerische Befriedigung in einem Bereich zu finden, der an bestehende Jazz-Traditionen anknüpfte und damit Hörern in bewährter Weise Zugang bot.
Dass Allen sich dabei jedoch nicht nur auf die erfolgversprechende Linie des allseits beliebten Miles-Davis-Erbes bezog, zeigt ihr im Dezember 2008 aufgenommenes Solo-Album Flying Toward The Sound, dem sie den Untertitel „A Solo Piano Excursion Inspired by Cecil Taylor, McCoy Tyner and Herbie Hancock“ gab. Sie bezeichnete die Stücke des Albums als „Refractions“ (Lichtbrechungen) und ein Jazzjournalist, der Allen interviewte, erläuterte, sie „breche“ in diesen Stücken das Vokabular von Taylor, Tyner und Hancock in ihrem eigenen „lyrischen, kinetischen Jargon mit Autorität und Raffinesse“.103) Die Musik ist überwiegend stimmungsvoll, getragen, zum Teil romantisch sowie abgerundet im Sinn einer Art Jazz-Klassik und damit weit entfernt von der eigenwilligen, „unklassischen“ Spielweise in ihrem ersten Solo-Album (Home Grown, 1985), wo sie Free-Jazz-Einflüsse nicht glättete und repetitive rhythmische Muster einsetzte. – Im Februar 2009 nahm sie Live-Auftritte auf104), in denen sie das Jazz-Tanz-Thema wieder aufgriff. Ihre Band bestand aus einem Kontrabassisten, einem jungen Schlagzeuger, der ein spritziges, funkiges Tanzmusik-Feeling einbrachte, sowie einem außerordentlich virtuosen Stepptänzer, der mit seinen Improvisationen einen bedeutenden musikalischen Beitrag leistete. Auch mit diesem Projekt erwies sich Allen als erfahrene Künstlerin, die eigene Ideen verfolgt und meisterhaft sowie mit überzeugender Wirkung auf Jazz-Hörer verwirklicht. Sie scheint dabei allerdings mehr als in jungen Jahren in den stilistischen Bahnen bedeutender Vorbilder geblieben zu sein, auch wenn ihr Traditionsverständnis keineswegs die Enge der „jungen Löwen“ hatte. Ihr früheres Bestreben, ihre Musik innovativ zu entwickeln und über bereits bestehende Spielweisen hinaus stärker mit aus Afrika stammenden Konzepten zu verbinden, schien an Bedeutung verloren zu haben. Das M-Base-Vorhaben, eine gemeinsame neue musikalische Sprache zu schaffen, war ohnehin bereits in ihren Aufnahmen der 1980er Jahre nur wenig erkennbar – am ehesten im Album Open on All Sides (1986), an dem ihr damaliger Lebenspartner Steve Coleman als Altsaxofonist und Co-Produzent mitwirkte. In drei Alben von Colemans Five-Elements-Band sowie in zwei Alben Osbys diente sie als Keyboarderin, ohne dass dabei ihre pianistischen Fähigkeiten eindrucksvoll zum Zug kamen.105) Umgekehrt ist wohl auch schwer vorstellbar, wie sich Coleman in Allens Musik über gelegentliche Soli hinaus mit seinen Konzepten einbringen hätte können, ohne die Freiheit ihres Klavierspiels zu beeinträchtigen.
GREG OSBY
In Greg Osbys erstem Album (Greg Osby And Sound Theatre, 1987) wechseln sich zwei unterschiedliche Arten von Stücken ab: Die erste Art106) beruht auf einem schnellen Walking-Bass-Rhythmus, über dem Osby virtuos originelle, verwinkelte Melodielinien spielte. Durch den Walking-Bass-Rhythmus und den Schwerpunkt auf einem Spiel mit Linien ist diese Musik mit der von Charlie Parker repräsentierten Tradition verbunden, ohne dass Osby Parkers Phrasen nachahmte. Innovativ war an diesen Stücken die individuelle Art von Osbys Saxofon-Improvisationen, aus denen offensichtlich auch die Themen entwickelt waren.107) Die andere Art von Stücken108) besteht aus sich langsam bewegenden, stimmungsvollen Klanggemälden, die weder in rhythmischer Hinsicht noch hinsichtlich der Jazz-Improvisationskunst interessant sind. Eine Besonderheit bildet das vorletzte Stück: Seine rhythmische Basis besteht aus einem etwas schrägen Funk-Rhythmus und erinnert damit an jene komplizierten Grooves, auf denen Steve Coleman bereits seit Jahren die Musik seiner Five-Elements-Band aufbaute. Insgesamt überwiegen in Osbys erstem Album klare Linien109), während sein zweites (Mindgames, 1988) und sein drittes (Season of Renewal, 1989) ein wesentlich üppigeres „Klang-Theater“ bieten: Das Spiel schlanker, beweglicher Linien über Walking-Bass-Rhythmen ist verschwunden. Die meisten Stücke sind langsam, atmosphärisch und häufig erfüllt von Synthesizer-Klängen, zu denen manchmal engelhafter Frauengesang tritt. Diese oft kitschigen oder gespenstischen klanglichen Fantasy-Welten werden hin und wieder von Stücken mit Funkbeats und rockigen „elektrischen“ Klängen unterbrochen, die ebenfalls vor allem durch ihre Sound-Effekte wirken und nur relativ wenig an geschmeidigem rhythmischem Bewegungsgefühl hervorbringen. Auch Osbys Spiel auf dem Alt- und dem Sopran-Saxofon ist oft auf Klangfarben bezogen und reicht von schmachtenden Lauten bis zu hektischen, elektronisch verfremdeten Karatekampf-Wirbeln110). Anscheinend wollte er in diesen beiden Alben seiner Musik entgegen der im damaligen Jazz vorherrschenden Tendenz zur Traditionspflege Aktualität und Neuartigkeit verleihen111) und konzentrierte sich dabei besonders auf die Klang-Komponente und ihre atmosphärische Wirkung, für die er häufig die Möglichkeiten neuerer Klangerzeugungstechniken nutzte. Diese Herangehensweise hatte sich schon wesentlich früher in seiner Entwicklung geformt. Er sagte, er habe zwar, nachdem er die Musik von Charlie Parker kennengelernt hatte, dessen Aufnahmen sowie die von Sonny Stitt und Cannonball Adderley nachgespielt, doch sei er mehr von Komponisten, von der „Organisation von Sounds und Klangfarben“ beeinflusst worden.112) Grundsätzliche Unterschiede zwischen den Herangehensweisen Osbys und Colemans zeigen sich zum Beispiel in der Art, wie sie Cassandra Wilsons Stimme einsetzten: In Osbys Album Season Of Renewal (1989) klingt sie fast ein wenig wie die einer Sängerin aus dem klassisch-europäischen Bereich. Colemans Five-Elements-Band hingegen war ursprünglich eine Straßenband, bewahrte lange den Charakter einer funkigen Tanzmusik und wurde daher von dem mit folkloristischen Südstaaten-Traditionen verbundenen Gesang Wilsons, ihren spontanen Ausrufen, ihrem Lachen und ihren anderen ungezwungenen Lautäußerungen bereichert.
Im Jahr 1989 machte Osby mit Coleman unter dem Gruppennamen Strata Institute gemeinsame Aufnahmen (Album Cipher Syntax) und die drei von Osby alleine komponierten Stücke113) zeigen ebenfalls, dass er weniger die für Coleman damals vorrangige Arbeit an einem neuen geschmeidigen, kunstvollen Groove teilte als um neuartige, stimmungsvolle Sounds bemüht war. Eines von Osbys Stücken114) ist das einzige beschauliche des Albums und Osby erzeugte in ihm durch ein Nachhallen seines Saxofons eine träumerische, surreale Stimmung. Ein zweites115) sticht dadurch hervor, dass er seinem Saxofon mithilfe eines elektronischen Geräts einen „orchestralen“ Klang verlieh.116) In einem weiteren Album der Strata-Institute-Gruppe117) und in dem bereits erwähnten Album des M-Base-Collectives ist jeweils ein Stück von Osby enthalten118) und diese beiden Kompositionen Osbys unterscheiden sich wiederum durch ihren langsamen, tranceartigen, auf atmosphärische Wirkung setzenden Charakter deutlich von den anderen Stücken der beiden Alben. – Hörer mit träumerischen Gefühlswelten einhüllen oder sie mit seltsamen Klangfarben beeindrucken, war nie das, was herausragende Improvisatoren der Jazzgeschichte wie Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane bewirkten, und dass neue Technologien eine fragwürdige, rasch verblassende Aktualität verschaffen, führte bereits die Fusion-Welle der 1970er Jahre vor Augen. So waren auch Osbys Versuche, mit einem modernen Sound den Jazz weiterzuentwickeln, wenig überzeugend.
Als Saxofonist hatte sich Osby aber bereits einen Namen gemacht, vor allem durch seine 1985 begonnene Mitarbeit in Jack DeJohnettes Gruppe Special Edition119). Andrew Hill, in dessen Band Osby Ende der 1980er Jahre spielte120), sagte, Osby habe einen „unglaublichen Sinn für Rhythmus und harmonische Richtigkeit“ und wähle die „richtigen Noten mit einer Präzision, die für Leute mit seinen technischen Fähigkeiten unüblich ist“.121) – Im Jahr 1990122) erhielt Osby einen Vertrag mit der Firma Blues Note Records und nahm noch im selben Jahr bei ihr ein Album mit stark geglättetem, nach Verkäuflichkeit ausgerichtetem Sound auf, das überdies den irritierenden Titel Man-Talk For Moderns, Vol. X123) erhielt. In zwei weiteren Alben124) kombinierte er Jazz- und Hip-Hop-Elemente in einer Weise, die zwar durchaus seinem Stil, „Klang-Theater“ zu produzieren, entsprach und möglicherweise tatsächlich als aktuelle, sozial relevante und für junge Afro-Amerikaner attraktive Musik gedacht war125). Doch scheint er damit weder in Hip-Hop-Kreisen noch unter Jazz-Anhängern beachtlichen Anklang gefunden zu haben. Inwieweit für die Gestaltung seiner Aufnahmen die Frage der zu erwartenden Verkaufbarkeit maßgeblich war, erscheint als undurchschaubar. Osby machte keinen Hehl daraus, dass er geschäftliche Aspekte nicht aus Künstler-Idealismus ignorieren wollte, sondern einen entsprechenden Realitätssinn regelrecht als Teil des M-Base-Konzepts verstand.126) Andererseits scheint er Offenheit für ein Experimentieren mit unterschiedlichen Musikarten als Teil seiner Kreativität und Gegenwartsbezogenheit betrachtet zu haben.127) Jedenfalls schwenkte er nach den Hip-Hop/Rap-Experimenten mit dem Album Art Forum (1996) in mehrfacher Hinsicht in eine entgegengesetzte Richtung: Nun wurden ausschließlich in traditionellem Jazz verwendete Instrumente eingesetzt und Funk-Rhythmen sind keine mehr zu hören. Soweit überhaupt ein durchgehender Grundrhythmus dargestellt wird, beruht dieser auf einem Walking-Bass, der allerdings oft nur angedeutet wird. Die beiden nicht von Osby komponierten Stücke stammen aus dem Repertoire Duke Ellingtons und Billy Holidays und auch die anderen Stücke haben im Wesentlichen den Charakter von Spielweisen aus den 1950er und 1960er Jahren, auch wenn Osby selbst in seinem individuellen Stil improvisierte. Dieses Album ist nicht nur gegenüber den zuvor verwendeten Hip-Hop-Elementen extrem weit von einer Straßen- oder Tanzmusik entfernt, sondern auch im Jazzspektrum in einem Bereich angesiedelt, der Hörern einen verfeinerten Kunstgenuss mit Kultiviertheit im Sinne europäischer Klassik bietet, sodass der Albumtitel („Kunstforum“) treffend erscheint. Ein auf Swing/Groove beruhendes Bewegungsgefühl wird hier nur zum Teil und sehr dezent vermittelt. Die Mehrheit der Stücke ist ausgesprochen langsam, beschaulich und auf stimmungsvolle Wirkung ausgerichtet.
In den nachfolgenden Alben Further Ado (1997), Zero (1998) und Inner Circle (1999) präsentierte Osby eine deutlich lebendigere, im Rhythmus vitalere, wagemutigere Musik, die sein Talent als Improvisator und Bandleader ganz zum Ausdruck brachte. Diese Musik bewegt sich im Grunde ebenfalls auf traditionellen Schienen, doch werden hier die vielfältigen, ausgefeilten Spielweisen der Jazztradition so gekonnt und eigenwillig genutzt, dass sich eine originelle, glasklare, ausgesprochen kunstvolle und vielgestaltige Musik ergibt. Sie ruft ein Wechselbad aus unterschiedlichen, zum Teil ziemlich abgründigen Stimmungen hervor, Groove und Ausdruckskraft in der Art Charlie Parkers oder John Coltranes sind hingegen wiederum weniger ihre Stärke. – Das 1998 aufgenommene Live-Album Banned in New York kommt der Parker-Linie näher und enthält auch zwei Stücke aus Parkers Repertoire128) sowie eines von Sonny Rollins. Bei aller Kunst und Originalität Osbys klingen diese Aufnahmen im Vergleich zu Parkers Musik und der, die Rollins in den 1950er Jahren spielte, jedoch schwammig. Osbys Fokus lag, wie sich aus seiner eigenen, oben erwähnten Aussage ergibt, eben weniger auf den Qualitäten, die diese Improvisatoren der Vergangenheit auszeichneten. – In einigen weiteren Alben schien sich Osby mehr an Bewährtes anzuhängen129) und dennoch endete sein Vertragsverhältnis zu Blue Note Records nach einem im Jahr 2005 aufgenommenen (schwierigeren) Album130).
CASSANDRA WILSON
Der besondere Reiz von Cassandra Wilsons Gesang liegt in der überwiegend dunklen, samtenen Klangfarbe ihrer tiefen Stimme und ihrem traumwandlerischen Ausdruck, der aus einer Art magischem Empfinden zu schöpfen scheint. Auch wenn sie den Zauber der Volkskultur ihrer afro-amerikanischen Herkunft131) später in einer nostalgischen Weise bewusst pflegte und inszenierte sowie eine versierte Musikerin mit differenziertem, intellektuellem Zugang ist, so vermittelte ihr Gesang doch bereits in den ersten Aufnahmen eine empfindungsreiche, intuitive Art, die eine reizvolle Alternative zur Professionalität des neotraditionellen Jazz sowie zur starken Versachlichung im modernen, westlichen Alltags bildet. Sie passte mit diesem andersartigen Lebensgefühl ausgezeichnet in die funkelnde, exotische Welt der Five-Elements-Musik und ergänzte sie mit ihrem ruhigen, warmen, menschlichen Ausdruck. In ihren eigenen, ab Dezember 1985 aufgenommenen Alben132) arbeitete sie zunächst ebenfalls überwiegend mit Musikern aus Colemans Kreis, die hier eine zurückgenommene Begleitung bereitstellten, sodass Wilsons Stimme in den Mittelpunkt rückte. Ihr Gesang verbreitete allerdings eine eher schwermütige, relativ wenig variierende Atmosphäre. In ihrem 1988 aufgenommenen Album Blue Skies sang sie ausnahmsweise mit einer traditionellen Klaviertrio-Begleitung so genannte Jazz-Standards und dabei erwies sich ihre konstant ruhige, gedämpfte, wenig spritzige Art zu singen im Ausdrucksspektrum gegenüber Sängerinnen wie Betty Carter oder Sarah Vaughan, die früher derartige Stücke sangen und ausgezeichnet scatten konnten, als begrenzt. Einige Stücke ihres Albums Jumpworld (1989)133) bilden hingegen insofern eine Besonderheit, als hier eine größere Mannschaft aus M-Base-Musikern einen dichten, schillernden Hintergrund in der Art der Five-Elements-Musik erzeugte. Er bot Wilsons Gesang einen lebendigen Rahmen, ohne sie aus dem Mittelpunkt zu verdrängen, und bezog ihre Magie auf eine gegenwärtige, großstädtische Realität. Sowohl in musikalischer als auch atmosphärischer und thematischer Hinsicht sind diese Stücke wirklich aktuelle Jazz-Songs mit zeitgemäßem Groove.
Wilson mochte ihr traditionsorientiertes Album Blues Skies nicht, doch der Geschäftsführer von Blue Note Records schätzte es und bot ihr im Jahr 1993 einen Vertrag an, allerdings unter der Bedingung, dass sie sich von ihrer Band aus M-Base-Musikern löst, worauf sie mithilfe eines jungen Produzenten ein neues Konzept entwickelte.134) Sie ließ sich nun in sparsamer Weise überwiegend von Saiten- und Perkussionsinstrumenten begleiten, die einen stimmungsvollen Rahmen sowie zusätzliche, auflockernde Klangfarben beisteuerten. Auch in Wilsons Gesang wurde die Klangfarbe noch stärker herausgestellt. Sie sang leise und mithilfe verbesserter Aufnahmetechnik135) wurde ein intimer Höreindruck vermittelt. Ihre berührende Stimme und die angenehmen Klänge der Begleitmusik anstelle komplizierter musikalischer Strukturen ermöglichten es, bei einem größeren Publikum anzukommen und Wilson zur „Jazz-Diva“136) aufzubauen. Sie griff nun häufig alte Songs aus dem Blues-, Folk-, Country, Rock- und Pop-Bereich auf und interpretierte sie mit verhaltenem Ausdruck und einer auf die Jazz-Tradition gestützte Kunst des stimmlichen Ausdrucks. Afro-Amerikaner haben seit jeher ein gespaltenes und seit langem eher ablehnendes Verhältnis zum Blues.137) In der „weißen“ Rock- und Folkmusik entstand hingegen bereits in den 1960er Jahren ein häufig romantisierendes Interesse am ländlichen Blues der Südstaaten und so scheint für Wilsons Rückbesinnung auf ihre „Roots“ beim „weißen“ Publikum über den Jazzbereich hinaus eine Empfänglichkeit bestand zu haben138). Sie konnte tatsächlich auf bestechende Weise und mit sehr persönlichem Ausdruck eine verfeinerte Art von Blues singen, wie ihr Beitrag zu David Murrays Aufnahme des Songs The Prophet Of Doom139) zeigt. Doch ist ihre Musik der Blue-Note-Alben stark ästhetisiert, auf einen entspannenden Hörgenuss im gediegenen Wohnzimmer abgestimmt und insofern extrem weit entfernt von den Songs eines echten Blues-Shouters. Immerhin enthalten Wilsons Stücke aber wesentlich mehr an Aufrichtigkeit, Seele und differenzierter Weltsicht als das meiste im damaligen Boom des weiblichen Gesangs im Grenzbereich zwischen Pop und Jazz. Wilson erklärte, Jazz sei für sie mehr eine Disziplin als ein Stil – ein Zugang zur Musik und eine Disziplin, die einen lebenslangen Einsatz für das Erforschen der Form und der Möglichkeiten umfasse.140) Zweifelsohne blieb sie während ihres Vertragsverhältnisses zu Blue Note Records, das nach einem im Jahr 2010 aufgenommenen Album endete, und auch darüber hinaus in gewisser Weise mit der Jazztradition verbunden. Doch verschafft ihre Musik kaum etwas von jenem spannenden Jazz-Erlebnis, das zum Beispiel die Aufnahme eines im Oktober 1993 stattgefundenen Konzerts von Betty Carter in Hamburg mit Geri Allen, Dave Holland und Jack DeJohnette141) bietet. Man mag Betty Carters Musik mit ihren Walking-Bass-Rhythmen und Sact-Improvisationen als Jazz-Stil der Vergangenheit betrachten, doch schuf Wilson keine (aus der Jazz-Perspektive) auch nur annähernd gleichwertige Alternative dazu. Wie Gesangsimprovisationen in einer anspruchsvoll weiterentwickelten Art von Jazz mit neuartiger rhythmischer Basis klingen können, führte die Sängerin Jen Shyu während ihrer Zugehörigkeit zu Steve Colemans Band in den Jahren 2003 bis 2011142) vor Augen. Shyus Eltern waren aus Südostasien in die USA eingewandert und sie studierte Operngesang, sodass sie nicht über den von afro-amerikanischen Traditionen geprägten stimmlichen Ausdruck verfügte, den Wilson ausgezeichnet beherrschte. Shyu versuchte keine Nachahmung, sondern wandte sich später vielmehr südostasiatischer Musik und experimenteller Improvisation143) zu. In Colemans Band gelang es ihr, mit virtuosem, innovativem Gesang weitgehend gleichrangig mit den Spielern der Blasinstrumente (Alt-Saxofon, Trompete, Posaune) zu improvisieren und mit ihrer Stimme der bereits ziemlich avancierten Musik Colemans ein etwas leichter zugängliches Element hinzuzufügen.
GRAHAM HAYNES
Ein Blue-Note-Album Wilsons144) ist einem Jazzmusiker gewidmet – wie kaum anders zu erwarten, dem bei Hörern und Journalisten besonders beliebten Star Miles Davis. Immer wieder bezogen sich Musiker auf Miles Davis, um ihrer Musik Attraktivität zu verleihen. Steve Coleman erzählte, er habe mit Graham Haynes einmal über dieses Thema gesprochen, als sich Haynes mit Projekten wie „The Music of Miles Davis“ und so weiter beholfen habe. Er (Coleman) habe gesagt, er würde lieber hungern als solche Tribut-Projekte zu machen oder in All-Star-Bands zu spielen. Er habe viele derartige Angebote bekommen und hätte damit viel Geld machen können, doch bringe einen so etwas vom eigenen Weg ab. Es schwäche nicht nur die eigene Sache, sondern meistens kämen die betreffenden Musiker nicht mehr auf ihren Weg zurück.145) – Doch entwickeln die meisten Musiker nicht eine solche Hingabe, Virtuosität, Kreativität und Selbstsicherheit wie Coleman und müssten daher ihre Jazz-Musiker-Laufbahn aufgeben, wären sie nicht zu Kompromissen bereit. Graham Haynes brachte ab 1990 eine Reihe von Alben mit überwiegend elektronischer Musik heraus, die offenbar seinem musikalischen Interesse entsprachen, im Jazz-Kontext allerdings keine nennenswerte Bedeutung erlangten.
GARY THOMAS
Der Tenor-Saxofonist und Flötist Gary Thomas wählte letztlich eine Form der existenziellen Absicherung, die seit den 1970er Jahren von vielen Jazzmusikern genutzt wurde: das Unterrichten. Bekannt wurde er zunächst als Mitglied von DeJohnettes Special-Edition-Band, der er wie Osby im Jahr 1985 beitrat146) und in der er nach seinen Worten die für ihn bestmögliche Situation vorfand, da DeJohnette das Experimentieren gefördert und das Überschreiten der Grenzen durch Ausprobieren von Neuem ständig gefordert habe.147) Thomas entwickelte auf dem Tenor-Saxofon eine eindrucksvolle Art von Soli, indem er mit trockenem, scharfem Ton und zunehmender Schnelligkeit und Vehemenz spielte, als würde er eine ganze Reihe von Angreifern mit einer atemberaubenden Selbstverteidigungstechnik in Schach halten, wie in einem wirbelnden Tanz – als ginge es darum, sich in einer aggressiven Umwelt zu behaupten, die höchste Geschicklichkeit und Reaktionsschnelligkeit verlangt und kaum Raum für Gefühl lässt. Seine athletische, muskelbepackte Erscheinung unterstrich noch den Eindruck eines Kämpfers. Als er in seinen 20er Jahren war, wurde nach seiner Erzählung über ihn gesagt, er klinge, als würde er jemanden umbringen wollen, denn er spielte so viele Noten und so viel Sound sei aus seinem Saxofon gekommen. Er habe sich nicht viel darum gekümmert, anderen Raum zu lassen. Mit 17 Jahren habe seine Begeisterung für den Saxofonton von Billy Harper begonnen, der wie eine Kreissäge, aber auch beseelt wie ein Schrei geklungen habe. Thomas originelle Improvisationsweise, mit der er herkömmliche Phrasen vermied, führte er auf seinen hartnäckigen Charakter und darauf zurück, dass er nicht nach New York übersiedelte, wo ein großer Anpassungsdruck bestanden habe, sondern in Baltimore blieb.148) Seine Spielweise hatte allerdings Ähnlichkeit mit Greg Osbys Stil und damit auch mit dem von Steve Coleman, sodass Thomas als der charakteristische Tenor-Saxofonist der M-Base-Gruppe erschien, obwohl er nur fallweise mit ihr kooperierte.149) Sein Flötenspiel war wesentlich weicher und wärmer, aber auch konventioneller.
Während Thomas noch der Band von DeJohnette angehörte, arbeitete er 1986/1987 ungefähr drei Monate lang auch mit Miles Davis150). In den Jahren 1987 bis 1997 nahm er unter eigenem Namen zehn Alben bei drei kleinen deutschen Firmen151) auf, die personell miteinander verbunden waren und deren Interesse an Musikern des M-Base-Umfeldes (wie oben dargestellt) mit Colemans ersten Aufnahmen begonnen hatte. Thomas‘ Musik ist großteils noch düsterer als bereits sein Saxofonspiel alleine, besonders durch Synthesizer-Klänge von Keyboards und Gitarren, elektronische Veränderungen des Saxofon-Tons und machohaft klingendem Rap, aber auch durch eine „Seelenlosigkeit“, die selbst den Bearbeitungen von alten Jazz-Standards anhaftet. Aus einer musik- und instrumentaltechnischen Perspektive mag vieles an dieser Musik sehr gekonnt, originell und auf einem weit fortgeschrittenen Stand des Spiels über traditionellen Jazzrhythmen und jenen sein, die im Zug der Fusion-Bewegung entwickelt wurden. Doch „spricht“ diese Musik nicht durch starke Grooves, bewegende melodische Linien und klare harmonische Entwicklungen, sondern vermittelt wie Thomas‘ Saxofonton selbst einen emotionsarmen, fast schon abgestorbenen, monotonen Eindruck. Sie fand wohl aus diesem Grund bei Hörern kaum Anklang.152) Nach seinen Aussagen in einem Interview, das im April 1993 geführt wurde,153) scheint Verbitterung über die rassistischen Verhältnisse in den USA und anderswo wesentlicher Teil seines musikalischen Ausdrucks gewesen zu sein. Sein letztes, im Jahr 1997 aufgenommenes Album hat den Titel Pariah's Pariah (wohl so viel wie der „Letzte der Letzten“) und wirkt im Gegensatz zu früheren Aufnahmen weniger zornig als traurig – als würde er im Regen durch die kaputten Viertel, die Rückseite der amerikanischen Gesellschaft wandern. Wovon er erzählte, ist zweifelsohne Realität und verlangt dringend Aufmerksamkeit, Verantwortungsgefühl und Veränderung. Von Musik, die dieses Thema und die mit ihm verbundene Stimmung widerspiegelt, ist allerdings wohl zwangsläufig ein nur begrenzt befriedigendes Hörerlebnis zu erwarten. Trotz seiner kraftstrotzenden Erscheinung empfand Thomas das Herumreisen als Musiker im Laufe der Jahre als zu anstrengend und er sah sich nach einer anderen Beschäftigung um.154) Er fand sie 1997 in der Einladung, auf einem Konservatorium seiner Heimatstadt Baltimore eine Jazz-Abteilung aufzubauen, wo er zum ersten afro-amerikanischen Abteilungsleiter und Professor in der Geschichte der Einrichtung wurde.155) Er sagte schließlich, er könne nicht mehr so gut spielen wie vor zehn Jahren, doch mache er nun viel bessere Musik.156) Ein neues Album von ihm erschien jedoch nicht mehr.
STEVE COLEMAN
Anfang 1990 kam ein Vertragsverhältnis zwischen Steve Coleman und einer großen Musikproduktionsfirma157) zustande, das bis zum Ende des Jahrzehnts bestand. Das bei ihr im Februar 1990 aufgenommene Album Rhythm People betrachtete Coleman auch später noch als sein erstes ausgereiftes Werk.158) Er hatte die gesamten 1980er Jahre intensiv an der Entwicklung eines neuartigen, anspruchsvollen Rhythmuskonzepts für seine Musik gearbeitet, nach dem die Kompositionen der Stücke ineinander verflochtene Rhythmen als Grundstruktur für die Improvisationen vorgaben159). Mit den besonders talentierten Musikern seiner um 1990 bestandenen Band gelang es ihm, dieses Konzept in eine brillante, lebendige, improvisierte Musik umzusetzen, und er entwickelte es später anhand von Einflüssen aus anderen Musikkulturen, insbesondere aus afro-kubanischer Tradition, weiter.
Mehr dazu: Steve Colemans Substrat
Coleman verfügte um 1990 auch bereits über eine eigene musikalische Sprache für sein Saxofonspiel und die melodische/harmonische Gestaltung seiner Kompositionen. Im Gegensatz zu dem aus den 1960er Jahren stammenden Trend zu „freier“ Improvisation legte Coleman auf eine starke, herausfordernde Strukturierung seiner Musik Wert. Die „Sprache“ seiner Improvisationen und Kompositionen beruhte auf einer „Grammatik“, die er mithilfe grundlegender, systematischer Überlegungen ausklügelte, internalisierte und laufend weiterentwickelte.
Mehr dazu: Steve Colemans tonale Strukturen
Bereits zehn Monate nach Rhythm People nahm Coleman im Dezember 1990 mit derselben Besetzung ähnliche Musik für sein Album Black Science auf. Im darauffolgenden Jahr (1991) kam kein Album der Five-Elements-Band zustande und ungefähr am Ende dieses Jahres160) schied der Schlagzeuger Marvin Smitty Smith aus, was für Colemans Band zunächst ein herber Verlust war.161) Allerdings war Coleman in diesem Jahr in Kooperation mit anderen Musikern an folgenden ausgesprochen hörenswerten Alben maßgeblich beteiligt: im Duo mit dem Bassisten Dave Holland am Album Space Phase (aufgenommen im Jänner 1991), gemeinsam mit Greg Osby und Von Freeman als Leiter der Gruppe Strata Institute an dem von ihm produzierten Album Transmigration (aufgenommen im Jänner 1991) und in einer Zusammenarbeit älterer und jüngerer Musiker an dem ebenfalls von Coleman produzierten und unter seinem Namen erschienen Album Rhythm In Mind (aufgenommen im April 1991). – Mit dem im Jänner 1992 entstandenen Five-Elements-Album Drop Kick war Coleman später unzufrieden162) und es ist wohl auch aus der Hörerperspektive etwas weniger eindrucksvoll als andere seiner damaligen Alben. Doch sind mehrere Stücke dieses Albums durchaus ansprechend163).
Im Jahr 1993 war die Five-Elements-Band mit dem neuen Schlagzeuger Gene Lake, der nicht ganz so virtuos wie Smith, aber mit einem umso stärkeren Funk-Groove spielte, sowie mit einem neuen Pianisten wieder bestens eingespielt. Coleman wollte in einem Album die besonders lebendige Live-Musik der Band festhalten, und zwar insbesondere auch das, was er „kollektive Meditation“ nannte: das spontane Entwickeln eines Stückes, wie er es bereits in der Bandbesetzung mit Smitty Smith gemacht hatte. Er erfand dabei im Moment einzelne Parts, die er den Bandmitgliedern vorspielte oder vorsang, die Musiker mussten sie mit ihrem Gehör erfassen und die gesamte Band formte dann daraus im improvisierten Zusammenspiel das neue Stück. So ergab sich keine Kollektivimprovisation im Sinne des Free-Jazz, sondern eine durch Vorgaben stark strukturierte und dennoch spontan entwickelte Musik. Die Musikproduktionsfirma ließ allerdings prinzipiell keine Live-Alben zu, doch fand Coleman einen Kompromiss, indem er das Album The Tao of Mad Phat im Mai 1993 (nach einem Vorbild Cannonball Adderleys) „live im Studio“ aufnahm. Noch viele Jahre später bezeichnete Coleman es als eines seiner Lieblingsalben. Nicht alle, aber doch einige der Stücke seien auf die spontane Art vor dem Publikum entwickelt worden, selbstverständlich seien dabei Fehler gemacht worden und natürlich seien die besten Teile der Aufnahmen für das Album verwendet worden.164) – Aus gewöhnlichen Studio-Aufnahmen besteht Colemans Album Def Trance Beat (Juni 1994), an dessen Stücken zum Teil ein zusätzlicher Tenorsaxofonist sowie Handtrommler beteiligt waren. Die Beiträge der Trommler, die Afro-Amerikaner (nicht Afrikaner oder Afro-Kubaner) waren, fand Coleman rückblickend als nicht stark genug165) und auch sonst scheint er diesem Album keine größere Bedeutung beigemessen zu haben, aber es kann mit seinen ansprechenden Themen, dem starken Groove und dunklen Sound sowie mit den vielfältigen melodischen Improvisationen einem doch ein besonders befriedigendes Hörerlebnis bereiten.
Um dieselbe Zeit (Mai/Juni 1994) nahm Coleman mit seiner Gruppe und einigen Rappern das Album A Tale of 3 Cities auf, in dem seine Band kaum mehr als einen rhythmisch anspruchsvollen Background für Raps bereitstellte. Die von den Rappern ohne musikalische Ausbildung entwickelte Improvisationskunst hatte für Coleman als raues, in gewisser Weise dem Blues verwandtes, aktuelles, afro-amerikanisches Element von der Straße einen eigenen Wert.166) Auch kann zwischen dem sprachverwandten Charakter der Jazz-Improvisation eines Charlie Parker und dem rhythmischen, melodie-ähnlichen Sprachspiel des Rap eine gewisse Verbindung gesehen werden, die für afro-amerikanische Musik typisch ist. So mag dieses Album ein interessantes Experiment sein, doch bietet es kaum, was man sich als Hörer von Jazz erwartet.
Im März 1995 präsentierte Coleman an mehreren Abenden einem großen Publikum in Paris drei verschiedene Gruppen: die Five Elements, die Metrics mit Rappern sowie die Mystic Rhythm Society mit einem marokkanischen Sänger, einem indischen Perkussionisten, einer Koto-Spielerin und zusätzlichen Musikern aus dem Jazzbereich. Um diese Konzerte aufnehmen und veröffentlichen zu können, war er zuvor zur französischen Niederlassung der Musikproduktionsfirma übergewechselt, die zu Live-Aufnahmen bereit war und schließlich in drei Alben Mitschnitte von diesen Auftritten herausbrachte. Das Album mit den Five Elements (Curves of Life) enthält ausgezeichnete Live-Musik der Band, wobei allerdings in zwei Stücken der spontan zum Einsteigen eingeladene Tenorsaxofonist David Murray beteiligt war, dessen Spielweise vom Free-Jazz geprägt war. Die beiden anderen Alben sind aus dem Blickwinkel des Jazz wieder weniger befriedigende Experimente mit Rap beziehungsweise einer Art „Weltmusik“-Mischung. – Diese Konzerte in Paris und die drei Alben verschafften Coleman eine unerwartete Popularität in Frankreich sowie erhöhte Einnahmen, die er dazu nutzte, nun aufwendigere Projekte in Angriff zu nehmen und mit großen Gruppen zu arbeiten.167)
Der größte Teil des Albums The Sign and The Seal wurde im Februar 1996 in Kuba aufgenommen und bildete den Abschluss einer intensiven Zusammenarbeit von Colemans Band mit einer afro-kubanischen Folkloregruppe. Coleman wollte die von solchen Gruppen gepflegte, auf afrikanische Traditionen zurückgehende Trommelkunst für seine Musik erschließen und ging, wie er sagte, zunächst in diese Folkloremusik, um die Möglichkeiten einer kreativen Nutzung für seine Musik zu erkunden. Die Musik dieses Albums sei nur der erste, noch nicht ganz zufriedenstellende Schritt gewesen.168) – Die Verschmelzung der afro-kubanischen Trommelrhythmen und der „ungeraden“ Funk-Grooves der Coleman-Band wirkt in diesem Album erstaunlich perfekt. Doch ist der Gegensatz zwischen dem folkloristischen Charakter der ausdrucksstarken afro-kubanischen Gesänge und den harmonisch/melodisch avancierten Jazz-Beiträgen von Coleman und seiner Band beträchtlich, sodass sich sehr reibungsvolle Klänge ergeben. Phasenweise wird die Vermischung fremdartiger Elemente durch Beiträge eines Rappers noch extremer. Es scheint, als brauche diese Musik die Vorstellung einer Verbundenheit ihrer Komponenten durch gemeinsame afrikanische Wurzeln, um nicht nur auf der rhythmischen Ebene als harmonisches Ganzes wahrgenommen zu werden.
Einige jüngere afro-kubanische Perkussionisten, die an Colemans Projekt in Kuba beteiligt waren, wirkten dann an dem im April und Juni 1997 aufgenommenen Album Genesis mit, in dem Coleman mit einem großen, von ihm Council of Balance genannten Orchester die Erschaffung der Welt in sieben Tagen darstellte. Dem Thema entsprechend schuf er großdimensionale, oft düstere Orchesterklänge, vor die viele solistische Beiträge verschiedener Orchestermitglieder treten. Für Coleman war es eine Gelegenheit, mit einer Vielzahl von instrumentalen „Stimmen“ zu arbeiten und dabei seine harmonischen Vorstellungen weiterzuentwickeln.169) – Wenn man jedoch vor allem Coleman selbst in lebhafter Interaktion mit seinen Five Elements spielen hören möchte, dann ist das größtenteils im März 1997 aufgenommene Album The Opening Of The Way, das mit Genesis zu einem Doppelalbum verbunden wurde, besonders empfehlenswert. Der Schlagzeuger der Band war nun Sean Rickman, dessen Spielweise wie die seines Vorgängers Gene Lake Funk-verbunden war, etwas härter klang und ausgezeichnet mit dem virtuosen Conga-Spiel des Afro-Kubaners „Angá” (Miguel Diaz Zayas) harmonierte.
Dem Begleittext des im April 1998 aufgenommenen Albums The Sonic Language of Myth stellte Coleman ein Zitat voran, nach dem es die Funktion eines Künstlers ist, sein Umfeld und die Welt zu mythologisieren. Zusätzlich zur Five-Elements-Band engagierte Coleman eine Vielzahl von Gastmusikern, unter anderem auch Streicher und Sänger, und gab mithilfe ihrer vielfältigen (instrumentalen) Stimmen einer von Esoterik, Astrologie und alt-ägyptischer Mythologie geprägten Weltsicht musikalische Gestalt. Mit solchen Ideen beschäftigte er sich schon lange, doch waren sie bisher nur durch Titel von Musikstücken, seine Erläuterungen in Begleittexten zu Alben und Aussagen in Interviews erkennbar.170) In diesem Album wird nun jedoch ein wenig in der Art einer Filmmusik (vor allem auch durch den Einsatz der Sänger und Streicher) eine so konkrete klangliche Kulisse für diese Ideen erzeugt, dass man sich als Hörer nicht dem Eindruck, in mythische Sphären entführt zu sein, entziehen kann. Coleman schätzte dieses Album offenbar auch später noch und betrachtete es rückblickend gemeinsam mit dem nachfolgenden (The Ascension to Light, Februar bis Juni 1999) als seine nächste große künstlerische Zäsur nach Rhythm People171) sowie als Höhepunkt des musikalischen Ausdrucks seiner mythischen Vorstellungen172). Diese Aufnahmen können faszinierend sein, insbesondere auch durch die inspirierten Improvisationen Colemans, falls man sich auf ihre surreale Welt einlassen will.
Coleman nützte seine damals finanziell günstige Situation nicht nur, um solche Projekte mit größeren Gruppen und avancierterer Musik zu verwirklichen, sondern pausierte auch ab Ende 1999 die Aufnahme- und Konzerttätigkeit für eineinhalb Jahre, nachdem er einen größeren Geldbetrag als Preis erhalten hatte. Er widmete sich ganz seinen musikalischen und spirituellen Studien, unter anderem, indem er Reisen unternahm. Die Unterbrechung veranlasste die Musikproduktionsfirma, das Vertragsverhältnis zu kündigen, doch erhielt Coleman bald ein Vertragsangebot einer kleinen französischen Firma173), mit der er im Juli 2001 das Live-Doppelalbum Resistance Is Futile aufnahm. Colemans Band war durch zwei junge Trompeter verstärkt, von denen einer, Jonathan Finlayson, danach zu einem dauerhaften Mitglied der Band und als zweiter Bläser-Solist zu einem idealen Partner Colemans wurde.174) Resistance Is Futile bietet pure, zupackende, geradezu bodenständige Five-Elements-Musik und unterscheidet sich dadurch erheblich von den vorhergehenden Alben. Allerdings präsentierte Coleman bei Auftritten in kleiner Besetzung schon lange eine ähnliche Musik, es wurden nur seit The Opening Of The Way keine Aufnahmen von ihr mehr veröffentlicht.
In den nachfolgenden Studio-Alben Alternate Dimension Series 1 (März 2002) und On the Rising of the 64 Paths (März/April 2002) ist ebenfalls die Five-Elements-Band mit großartiger Musik in der Art der Parker-Coltrane-Tradition zu hören – ein wenig „cooler“ als im vorhergehenden Live-Album und sehr kunstvoll. In ihnen tritt das bezaubernde Wechsel- und Zusammenspiel von Coleman und Finlayson in den Vordergrund. Für beide Alben wurde durchgängig kein Tasteninstrument mehr eingesetzt, jedoch ein zweiter Bass hinzugenommen und im ersten wird der Rhythmus durch einen Conga-Spieler verstärkt sowie Claves verwendet, während am zweiten ein Flötist als dritter Solist beteiligt war. – Das Album Lucidarium (Mai 2003) führte hingegen die Linie der esoterisch inspirierten Aufnahmen mit großen Besetzungen in extremer Weise fort: Coleman war damals von alter mesopotamischer Kultur fasziniert und entwickelte, davon angeregt, ein eigenes Tonsystem, das er hier einsetzte, was kaum erträglich schräge Klänge ergab. Er sagte später, diese Musik sei so ungewöhnlich gewesen, dass man mit so etwas seinen Vertrag mit der Produktionsfirma verlieren kann, und seine (ungewöhnlich freizügige) Firma sei tatsächlich irritiert gewesen. Er habe durch dieses Projekt jedoch viel gelernt und das sei für ihn das Wichtigste.175) Im Übrigen enthält dieses Album kaum Soli, sondern größtenteils Kollektivimprovisationen. – Viel harmonischer und melodiöser wirkt Colemans nächstes Album, Weaving Symbolics (2004/2005). Die rhythmische Basis hat hier weniger den Charakter kraftvoller Funk-Grooves, sondern besteht mehr aus dichten, filigranen Geflechten. Darüber pendeln die Improvisationen oft laufend zwischen hübscher Melodiosität und beträchtlicher Schrägheit, sodass sich ein heller, anregender, geistvoller, zum Teil aber auch ein wenig abgehobener, mitunter schwindelerregender Gesamtsound ergibt, der Colemans Begeisterung für universale Ideen und spirituelle Bezüge sowie seine überschäumende Kreativität zu spiegeln scheint. Manches klingt seltsam, ätherisch und erschließt seinen Reiz erst allmählich nach öfterem Hören, andere Stücke wirken auf Anhieb wie ein bezaubernder Flug in luftigen Höhen176).
Die französische Firma, mit der Coleman in Vertrag stand, geriet in den Jahren 2005 und 2006 in finanzielle Schwierigkeiten und es wurde von ihr kein weiteres Album Colemans mehr veröffentlicht. Coleman machte jedoch selbst, soweit er es sich finanziell leisten konnte, weiterhin Aufnahmen, die später in Alben erscheinen sollten.177) Im Jahr 2007 ermöglichte es ihm ein Musiker178), der eine kleine Musikproduktionsfirma betrieb, Saxofon-Solo-Aufnahmen aus März und April dieses Jahres als Album mit dem Titel Invisible Paths: First Scattering herauszubringen. Unter den „unsichtbaren Pfaden“ (invisible paths) verstand Coleman die für Hörer nicht wahrnehmbaren musikalischen Strukturen, die er bei seinen Improvisationen gedanklich vor sich hatte.179) Tatsächlich besteht ein wesentlicher Reiz seines Solo-Saxofonspiels für Hörer wohl gerade darin, dass seine improvisierten rhythmisch-melodischen Linien offenkundig Strukturen folgten, die für Groove und melodische Logik sorgen, aber undurchschaubar und rätselhaft bleiben.
Erst im Jahr 2010 begann eine kleine, auf avantgardistischen Jazz spezialisierte, amerikanische Firma180), wieder regelmäßig Alben von Colemans Musik zu veröffentlichen. Das erste Album, Harvesting Semblances and Affinities, und das zweite, im Jahr 2011 erschienene, The Mancy of Sound, wurden bereits im Oktober 2006 und Februar 2007 aufgenommen. Nach Colemans Aussage war seine damalige Band eine der besten, die er je hatte181), und ihr Schlagzeuger, Tyshawn Sorey, außergewöhnlich talentiert, ähnlich wie Marvin Smitty Smith. Doch brachte Sorey aufgrund seiner Affinität zum Avantgarde-Jazz einen ganz anderen Stil ein als Smith sowie die mehr dem Funk verbundenen Schlagzeuger Gene Lake und Sean Rickman.182) Sorey sorgte für eine mächtig fließende, vielschichtige rhythmische Basis, die im Album The Mancy of Sound noch durch Marcus Gilmore als zweiten Schlagzeuger und einen Conga-Spieler verdichtet wurde. Besonders stark ist die Gruppe der melodischen Improvisatoren, bestehend aus Coleman am Altsaxofon, Finlayson an der Trompete, Tim Albright an der Posaune und der Sängerin Jen Shyu. Auf organische Weise wandelt sich ihr wunderbares Zusammenspiel laufend, indem sie einmal gemeinsam improvisieren, dann bei Soli wieder einander einen ergänzenden Hintergrund oder einfach Raum geben. Insgesamt klingt diese Musik aufgrund Colemans nun bereits jahrzehntelanger Entwicklung zweifelsohne anspruchsvoll, von unterhaltsamer Funky-Music weit entfernt, aber im Rahmen ihrer gedehnten Tonalität dennoch ausgesprochen melodiös und auch harmonisch. Sie erhebt sich vom Boden, wirkt aber nicht abgedreht, sondern enthält viel an praller Schönheit und Lebendigkeit.
Im Mai und September 2012, also fünf Jahre später, wurde Colemans nächstes Album, Functional Arrhythmias, aufgenommen, das 2013 erschien. In ihm sorgte wieder die bewährte Kombination von Sean Rickman und dem E-Bassisten Anthony Tidd für funkige Grooves als Fundament für Colemans und Finlaysons Improvisationen. Nur in manchen Stücken kommt ein weiteres Instrument, eine sparsam eingesetzte E-Gitarre, hinzu. Der Sound der Band ist dementsprechend klar und transparent und diese Wirkung wird noch dadurch verstärkt, dass Coleman häufig mit kurzen, abgesetzten, fragmentiert erscheinenden Tönen in einer raffiniert rhythmisierten Weise spielt. Das Album beginnt mit einem sehr trockenen Funkrhythmus und trotz dieser starken Verbindung zur Tanzmusik, die in diesem Album immer wieder spürbar ist, wird sofort deutlich, dass Colemans Musik hier in einem künstlerisch weit fortgeschrittenen Stadium ist. Mit der dementsprechenden rhythmischen und tonalen Kompliziertheit sind jedoch berührende musikalische Farben und Grooves verbunden und durch die bunten klanglichen Gemälde glitzert das Gitterwerk der fabelhaften Strukturen hindurch. Dieses Album Colemans erscheint wie eine perfekte Verwirklichung seiner ursprünglichen Idee, auf der Basis der Funk-Grooves seiner Jugendzeit eine ebenso anspruchsvolle Musik zu entwickeln, wie es Coltrane in seinem Spätwerk auf der vom Blues geprägten Grundlage gelungen war.183)
Coleman erwähnte, dass er in den 1990er Jahren, als er im Vertrag zu einer großen Musikproduktionsfirma stand, ein wenig über dem Untergrund war und danach im Zusammenhang mit einer allgemeinen Krise der Musikindustrie wieder zu einem Untergrundmusiker wurde.184) Anfang der 2010er Jahre befand er sich in einer der ökonomisch schwierigsten Phasen seiner Laufbahn und seine Auftrittsmöglichkeiten waren stark eingeschränkt.185) Auf Empfehlung bewarb er sich schließlich um ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung für ein größeres Projekt, erhielt es und konnte so im Oktober 2014 mit einem Orchester jene Aufnahmen machen, die im darauffolgenden Jahr als Album mit dem Titel Synovial Joints veröffentlicht wurden.186) Ausgangspunkt dieses Projekts war ein Traum Colemans, der ihn auf die Idee brachte, afro-kubanische und afro-brasilianische Perkussion mit der Instrumentation europäischer Orchester zu verbinden. Diesem Vorhaben lag sein Verständnis der Jazztradition zugrunde: Die Basis der rhythmischen Konzeption stamme aus Afrika und die grundlegenden harmonischen Prinzipien aus Eurasien. Die melodische Gestaltung sei hingegen aufgrund ihrer speziellen Kontur, Bewegung und ihres Feelings sowohl gegenüber eurasischen als auch afrikanischen Kulturen andersartig. Insgesamt habe sich eine einzigartige Musik entwickelt, in der die melodische und rhythmische Sprache auf organische Weise eigene harmonische Texturen hervorbringen. Rhythmen und Melodien bestimmten die Harmonie, nicht umgekehrt. – Diesem Verständnis entsprechend komponierte Coleman für sein Synovial-Joints-Album lange, ineinander verwobene rhythmisch-melodische Phrasen, die polyphone und polyrhythmische Texturen ergaben.187) – Die Verbindung einer im Kern aus Westafrika stammenden Rhythmik mit Elementen europäischer Konzertmusik und den speziellen Spielweisen der Jazztradition gelang Coleman in diesem Album zweifelsohne meisterhaft. Diese Musik ist auch insofern besonders überzeugend, als sie noch mehr als die seiner früheren Großgruppenprojekte sowohl anspruchsvoll als auch natürlich und zugänglich wirkt. Dazu trägt offenbar der zentrale Stellenwert der Improvisation wesentlich bei, der sich hier nicht nur in den vielen schönen Soli Colemans, Finlaysons und anderer niederschlug: auch die Kompositionen bestehen großteils aus niedergeschriebenen und orchestrierten Improvisationen Colemans. Er berichtete, dass er beim Improvisieren häufig einen meditativen, selbstvergessenen Zustand erreicht, in dem er auftauchende Bilder, Erinnerungen und Stimmungen mithilfe seines Saxofonspiels, durch Vokalisierung oder Schlagen von Rhythmen mit Händen und Füßen spontan in Klang ausdrücke. Für die Kompositionen des Synovial-Joints-Album habe er 20 bis 25 Improvisationen aufgenommen, aus ihnen die am besten geeigneten Teile ausgewählt, sie transkribieren lassen, ihnen dann weitere, oft ebenfalls spontan komponierte Schichten hinzugefügt und das ganze schließlich orchestriert. So sei diese Musik mehr seinem Unterbewusstsein entsprungen als bewusst konstruiert worden.188)
In den Jahren 2014 und 2015 erhielt Coleman noch weitere Preise, unter anderem einen hochdotierten,189) sodass sich seine finanzielle Lage verbesserte, vorübergehend ein gewisses mediales Interesse an ihm bestand und sich mehr Auftrittsmöglichkeiten ergaben. Er erklärte, dass er das Geld für die weitere Entwicklung der Musik und eine Belebung der Musikszene einsetzen will, die er sich von mehrwöchigen Aufenthalten seiner Band in verschiedenen Städten mit fast kostenlosen Workshops und Auftritten erwartete. Zunächst hielt er eine solche so genannte „Residency“ im Chicagoer Stadtteil South Side ab, wo er aufgewachsen war und von der lebendigen afro-amerikanischen Musikkultur, insbesondere der großzügigen Förderung junger Musiker durch den Saxofonisten Von Freeman, profitierte. Coleman wollte ein wenig davon an nachfolgende Generationen weitergeben.190) – Seine idealistische, nicht auf materiellen Reichtum ausgerichtete Haltung wurde viele Jahre zuvor vom älteren Saxofonisten Eddie Harris belächelt. Coleman erzählte im Jahr 1993 davon: Aus Harris‘ Sicht sei diese Haltung so dumm gewesen, dass sie „nicht mal Brot auf den Tisch bringt“. Coleman werde das kapieren, wenn er erst einmal so lange im Musikgeschäft ist, wie er.191) – Coleman sah in seiner „starken spirituellen Philosophie“ die entscheidende Hilfe, dem kommerziellen Druck zu widerstehen, und er orientierte sich an der Hingabe und Standhaftigkeit von Musikern wie John Coltrane, Sam Rivers, Ornette Coleman und Cecil Taylor.192) Seine esoterischen Interessen, Ideen und Ansichten mögen bisweilen seltsam und abwegig erscheinen, doch erfüllten sie offenbar bestens zwei Zwecke: ihn auf seinem Weg zu halten und ihn zu faszinierender Musik zu inspirieren.
Das oben erwähnte, im Dezember 1991 und Jänner 1992 aufgenommene Album Anatomy of a Groove war nicht nur das erste und letzte des so genannten M-Base Collectives, sondern scheint auch ein weitgehendes Ende der konstanten Zusammenarbeit des „Kollektivs“ markiert zu haben. Coleman war im Jahr 1991 in die ungefähr 150 Kilometer entfernte Stadt Allentown, Pennsylvania, übersiedelt, um die Lebenshaltungskosten zu senken und dadurch Geld für Reisen zu sparen.193) Osby erwähnte im Juli 1994, dass es nunmehr schwierig sei, das „große M-Base-Ensemble“ zusammenzubringen, da alle mit eigenen Projekten beschäftigt und mehrere von ihnen aus New York weggezogen sind. Mit Steve Coleman telefoniere er fast täglich und er habe mit ihm kürzlich zwei kleine Labels194) gegründet, die je ein Album pro Jahr herausbringen. Aber M-Base sei ja keine Organisation, sondern ein Konzept und sie seien Individualisten, die „gleiche Ziele und Ideale haben und sich treffen, wenn es notwendig ist“. Er und Coleman würden die Sache zusammen- und am Leben halten.195) – Osby korrigierte sich in dieser Aussage also gewissermaßen selbst, indem er den Ausdruck „M-Base“ zunächst auf die ursprünglich in Brooklyn zusammenarbeitende und sich organisierende Gruppe von Musikern bezog und dann meinte, unter „M-Base“ sei in Wahrheit nur ein „Konzept“ zu verstehen. Dieses Schwanken zwischen verschiedenen Bedeutungen findet sich auch in Colemans Erklärung des M-Base-Begriffs, die seine Internetseite seit 1995 unverändert wiedergibt 196): Er nannte darin „ihr“ Ziel, „auf einer Art großen kollektiven Ebene“ „gemeinsame kreative musikalische Sprachen“ zu bilden, und erklärte einige Zeilen weiter, M-Base sei lediglich eine Art, über die Gestaltung von Musik zu denken. Im Weiteren bezog er sich primär auf seine eigene Musik und seine persönliche Sichtweise. – Demnach scheinen Coleman und mit ihm Osby das Verständnis von M-Base der veränderten Situation angepasst zu haben. Der Pianist Vijay Iyer, der ab 1996 wiederholt in Colemans Band spielte, stellte in einem Aufsatz mit dem Titel Steve Coleman, M-Base, and Music Collectivism fest, dass der Ausdruck „M-Base“ mehrere Bedeutungen habe und sich mit seiner Undurchdringlichkeit simpler Interpretation widersetze.197) – Die Bemühungen, simple Deutungen zu verhindern, resultierten offensichtlich aus entsprechenden negativen Erfahrungen. So sprach Coleman davon, dass junge Musiker, die ihre eigene Musik zu entwickeln versuchen, größtenteils auf Unverständnis stoßen, weil es noch nichts Vergleichbares gibt. Charlie Parker, Coltrane und selbst Louis Armstrong sei es so ergangen. Bei seiner eigenen Musik habe es anfangs absurde Versuche gegeben, sie einzuordnen, indem sie zum Beispiel offenbar wegen der Namensgleichheit mit Ornette Colemans Musik in Verbindung gebracht wurde198) oder wegen der Verwendung elektrisch verstärkter Instrumente als Fusion bezeichnet wurde. Später hätten dann jüngere Musiker sich mit seiner Musik auseinanderzusetzen begonnen und das habe, als er ungefähr 30 oder 35 Jahre alt war, eine allmähliche Meinungsänderung bewirkt.199)
Im Jahr 1998 sagte Osby: Coleman sei sein bester Freund, sie würden täglich stundenlang miteinander telefonieren, immer wieder ein paar Tage miteinander verbringen und ständig an neuen Ideen arbeiten. Coleman sei ein Charlie-Parker-Experte und habe ihm dessen Bedeutung als Saxofonist klargemacht. Ansonsten seien sie sich in vielem nicht einig, was inspirierend sei, und gingen verschiedene Wege. Vor kurzem seien fast alle Musiker der M-Base-Gruppe im New Yorker Lokal Knitting Factory wieder einmal zu einem Auftritt zusammengekommen – er selbst, Steve Coleman, Graham Haynes, David Gilmore, Cassandra Wilson und so weiter. Sie hätten festgestellt, dass viele von ihnen noch immer den Konzepten verpflichtet sind, über die sie zehn Jahre zuvor diskutierten. Manche Leute würden finden, dass sich Cassandra Wilson veränderte, aber das stimme nicht. Er höre immer noch die M-Base-Prinzipien bei ihr. Er selbst benütze sie ebenso.200) – Im Jahr 1999 traten Steve Coleman und Greg Osby bei einer Reihe von Konzerten in New York und Europa gemeinsam als Mitglieder der Gruppe Renegade Way auf, die aus vier Saxofonisten und Colemans Rhythmusgruppe bestand201). Ansonsten waren jedoch kaum mehr Anzeichen einer Zusammenarbeit ehemaliger M-Base-Teilnehmer erkennbar und im Februar 2003 antwortete Osby auf die Frage, ob M-Base noch aktiv ist: Steve Coleman sei darin nach wie vor ziemlich aktiv und es gebe immer noch eine Internetseite (Colemans persönliche Seite M-Base.com). Außerdem höre er in vieler Musik rund um den Globus Bruchstücke des M-Base-Einflusses.202) – M-Base war nun somit mehr denn je „definitiv Steve Colemans Konzeption“, wie Geri Allen bereits in Bezug auf die 1980er Jahre feststellte203).
Im Jahr 2004 erwähnte der ältere Schlagzeuger Billy Hart, der seit den 1950er Jahren an den unterschiedlichen Entwicklungen des Jazz teilhatte (auch an der Fusion- und der Free-Jazz-Bewegung): Steve Coleman habe im Stillen die gesamte Musikwelt des Jazz beeinflusst und sei der „nächste logische Schritt“ nach Charlie Parker, John Coltrane und Ornette Coleman.204) – Auch Vijay Iyer wies auf Colemans Einfluss hin, der nahezu jeden Jazzmusiker seit John Coltrane berührt habe und bei dem es nicht nur darum gehe, wie man komplizierte Rhythmen hinbekommt, sondern auch um Colemans globale Perspektive auf die Musik und das Leben. Coleman habe eine eigene Sichtweise für das, was er macht und wie er es macht.205)
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