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Jazz-Qualität


Jazz ist …

… zunächst einmal die Musik von Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane:

Der Trompeter Louis Armstrong trat in den 1920er Jahren mit derart bestechenden Soli hervor, dass er zum Inbegriff von Jazz-Qualität wurde. Rund 20 Jahre später bildete der Alt-Saxofonist Charlie Parker eine unübertreffliche Improvisationskunst aus und wurde damit zum bedeutendsten Vorbild für eine weiterentwickelte Form von Jazz. Und wiederum (fast) 20 Jahre später erreichte der Tenor-Saxofonist John Coltrane in seinem Spiel eine solche Brillanz und Ausdruckskraft, dass er für die nachfolgende Zeit großartigen, aktuellen Jazz verkörperte. Alle drei Meister entfalteten ihre Kunst im Zusammenspiel mit ihren Bands, die sie hervorragend unterstützten und beantworteten und der Musik ein starkes, aktuelles Fundament verliehen.1)

Um 1990 entwickelte der Alt-Saxofonist Steve Coleman ein neuartiges Fundament mit einem zuvor unerreichten rhythmischen Reichtum. Darüber entfaltete er eine Meisterschaft der spontanen musikalischen Gestaltung, die die Traditionslinie von Parker und Coltrane in völlig eigenständiger und ebenbürtiger Weise fortführt. Damit erhielt er für die neuere Zeit eine ähnlich richtungsweisende Bedeutung wie Parker und Coltrane für ihre Zeit.2)

Der Jazz besteht aber auch aus
- den farbenprächtigen musikalischen Gemälden Duke Ellingtons,
- dem unwiderstehlichen Swing der Bigband von Count Basie,
- der überreichen, schillernden Pianistik von Art Tatum,
- der modernen Schrägheit und doch wunderbaren Stimmigkeit des Pianisten Thelonious Monk,
- der berührenden, geschickt inszenierten Ästhetik des Trompeters Miles Davis,
- den überschäumenden musikalischen Erzählungen des Tenor-Saxofonisten Sonny Rollins
- und vielen weiteren Beiträgen.

Die genannten Meister waren alle Afro-Amerikaner und die Jazz-Tradition, die sie repräsentieren, ist eine hochentwickelte, spezifisch afro-amerikanische Musikkultur.
Mehr dazu: Jazz-Verständnis

Unter „Jazz“ wird aber noch viel mehr als diese spezielle Musikkultur verstanden. Die meisten aktuellen Aufnahmen und Live-Darbietungen, die als Jazz angeboten und gepriesen werden, sind von der Musik der Meister weit entfernt.3) Jazz-interessierte Hörer kommen daher oft kaum mit Musik in Berührung, die ein Empfinden für die besonderen Qualitäten der Meisterwerke des Jazz fördert. Noch dazu lässt der Alltag der meisten nur wenig Zeit und Energie für ein einigermaßen aufmerksames Musikhören übrig. Umso mehr muss man sich auf die Meisterwerke konzentrieren, wenn man ein Gespür für sie entwickeln und so mitbekommen möchte, was Jazz wirklich großartig macht.

 

Qualitäten

Die Meister des Jazz erwarben ihre Fähigkeiten in jungen Jahren, und zwar auf zweifache Weise: einerseits durch ein Eintauchen in die Gemeinschaft erfahrener Musiker und andererseits durch zurückgezogenes, intensives Experimentieren mit ihrem Instrument.4) Sie verknüpften ein Übernehmen kultureller Werte mit der Herausbildung einer eigenständigen musikalischen Persönlichkeit. So gelang es ihnen, der Tradition einen eigenen Beitrag hinzuzufügen und ihr auf eigene Weise Gestalt zu geben.

In den 1970er Jahren suchte Steve Coleman als junger Musiker im afro-amerikanischen Viertel von Chicago den Kontakt zu Meistern der Jazz-Tradition und lernte von ihnen – vom Alt-Saxofonisten Sonny Stitt, der nur vier Jahre nach Charlie Parker geboren wurde und ähnlich wie Parker spielte, vom Alt-Saxofonisten Bunky Green und besonders vom Tenor-Saxofonisten Von Freeman, die beide sehr eigenständige Spielweisen entwickelt hatten. Steve Coleman berichtete: „Als ich aufwuchs und in Von Freemans Sessions spielte, gab es bestimmte Dinge, die wichtig waren: dein Sound, dein Groove und wie du dich selbst ausdrückst. […] Es gab ständig diese Kritik daran, dass man keinen Sound hat, keinen guten Groove, eine Menge Kritik am Rhythmus: Dieser Musiker kann nicht swingen, er hat kein Feeling und so weiter. Es ist also keine intellektualisierte Sache, es ist einfach eine Frage des Erlernens dieses speziellen Idioms von diesen Musikern, die vor einem kamen. Man muss mitkriegen, was es ist, das sie gut ausdrücken können, wie man erreicht, dass es sich in einer bestimmten Weise anfühlt, wie man verbindet, wie man swingt. Man hört die Musiker über das Gleiten [Floating] des Rhythmus, das Swingen des Rhythmus und all diese verschiedenen Begriffe reden. Man muss das mitkriegen […] um ein Mitwirkender zu sein.“5) Die älteren Musiker sprachen auch immer von „dieser ganzen Sache des Geschichten-Erzählens“. Sie sagten etwa über einen Musiker: „Ja, er klingt gut, beherrscht sein Instrument und alles, aber was ist die Geschichte?“ Sie forderten junge Musiker immer auf, eine Geschichte zu erzählen.6)

Der Bassist und Bandleader Charles Mingus schrieb im Jahr 1971: „Ich hatte selbst Gelegenheit, diese Musiker zu genießen7), die nicht einfach nur swingten, sondern neue rhythmische Muster erfanden sowie neue melodische Konzepte. Und diese Leute sind: Art Tatum, Bud Powell, Max Roach, Sonny Rollins, Lester Young, Dizzy Gillespie und Charles Parker, der für mich das größte Genie von allen ist, weil er die ganze Ära veränderte. […] Ich bewundere jeden, der etwas Originelles hervorbringt – aber nicht Originalität alleine, denn es kann auch Originalität in Dummheit geben, ohne musikalische Darstellung irgendeines Gefühls oder irgendeiner Schönheit, die der Mann gesehen hat, oder eines Lebens, das er gelebt hat. Zum Beispiel mag einer sagen, er spiele mit Gefühl. Doch kann er mit Gefühl spielen und überhaupt kein melodisches Konzept haben.“8)

Bunky Green erzählte: „Ich lernte am Anfang von Charlie Parker. Ich versuchte, seinen gesamten Stil zu kopieren. Ich wollte exakt so sein wie er. Als ich älter wurde und Parker spielen konnte, verstand ich, wo Parker herkam. Er sagte9): Wenn du so sein willst wie ich, musst du so wenig sein wie ich, wie es nur geht. Denn ich war in meiner Zeit ein Rebell. Wenn du also wie ich klingst, dann bist du nicht Charlie Parker.10) Green sagte auch: „Wenn man etwas erreicht hat, dann muss man aufpassen, dass man sich nicht auf den Lorbeeren ausruht, denn wenn man das tut, ist alles vorbei – nicht bloß im Jazz, sondern in allen Bereichen endet die Kreativität einfach. Es ist besser, man hat etwas, nach dem man strebt, sein ganzes Leben lang, sonst bricht alles ab. So sind wir in diesem Prozess des Strebens und das begleitet uns für immer."11)

Steve Coleman, der seine Musik in eigenständiger Weise laufend weiterentwickelte, sagte aber auch: „Es gibt gewisse Leute, die mein Maßstab sind, mein Bezugspunkt.“ Ihre Beispiele habe er studiert und sei ihnen gefolgt. „Ich habe meine hybride Version von diesen Beispielen, denn ich bring sie in mir alle zusammen und mit dem, was ich mag. Man muss wählen, welcher Tradition man folgen wird. Okay, ja, man hat diese Sache […], wenn man anfangs in diese Kultur kommt und sich bemüht, akzeptiert zu werden, und an einem gewissen Punkt entscheidet man sich zu dem, was ich spezialisieren nenne oder sich auf gewisse Elemente konzentrieren. Aber man hat weiterhin diese Normen von dem, was Leute vor einem aufgestellt haben. […] Es geht immer darum, einen Beitrag zu leisten, so sehe ich das. Als Charlie Parker eine bestimmte Sache in seiner Musik machte, machte er einen Beitrag, auf den dann eine Menge Leute aufbauten. […] John Coltrane und den anderen war sehr wohl bewusst, dass sie in einer speziellen Bruderschaft waren. Sie sprachen auch darüber. Sie sprachen davon, Teil der kreativen Sache zu sein, die damals geschah. So kann ich heute sagen: Hier ist mein Beitrag. Ich hab nicht das Niveau des Beitrages zu beurteilen oder welche Wirkung er haben wird. Das ist völlig außerhalb von mir, jenseits meines Einflussbereiches. Die einzige Sache in meinem Einflussbereich ist, dass ich mein Bestes dafür tun kann, einzuhaken, wie wir sagen […].“12)

Früher entwickelte Stile als Vorlagen festzuschreiben und das Jazz-Verständnis an sie zu binden, würde somit dem kreativen Geist der Jazz-Tradition und dem hohen Stellenwert widersprechen, den ein eigenständiger kreativer Ausdruck im Jazz hat. Was die Meisterwerke der Vergangenheit als Maßstab vorgeben, sind also weniger ihre konkreten Stilformen als ihre grundlegenden Qualitäten, für die sich aus den Musikeraussagen folgende drei Aspekte herausfiltern lassen:

Diese Aspekte sind nicht theoretisch verstehbar und werden letztlich nur von Insidern durch lange Erfahrung gänzlich erfasst.13) Doch bieten sie Jazz-Interessierten Ansatzpunkte für eine Annäherung an diese großartige Musikkultur.

 

Hörer-Perspektive

Musiktheoretische Erläuterungen sind für die allermeisten Hörer wertlos und würden auch nicht helfen, die besondere Aussagekraft der Meister des Jazz zu erfassen (wie ein Unverständnis vieler Musiker14) und Theoretiker zeigt). Qualitäten wie Groove, Swing, Sound und Storytelling sind hingegen grundsätzlich auch für Hörer zugänglich und faszinierend. Der besondere Stellenwert dieser Qualitäten in der Jazz-Tradition macht deutlich, dass diese Musik lebendige, ansprechende Kommunikation ist. Das kommt der Art, wie Hörer Musik auffassen, entgegen. Natürlich nähern sie sich dieser sehr speziellen Musikkultur aus großer Entfernung an. Doch haben bereits viele von ihnen eine Liebe zu den musikalischen Geschichten der Meister entwickelt, womit sie zumindest einen Teil ihrer Botschaften sehr wohl empfangen haben.

Zu einer solchen Annäherung sollen die folgenden Artikel anregen.  

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Miles Davis: Die Geschichte des Jazz könne mit vier Wörtern erzählt werden: „Louis Armstrong, Charlie Parker”. (QUELLE: Joan Downs, Bird Lives, Zeitschrift Time, 16. April 1973) – Steve Coleman: Duke Ellington habe gesagt, dass es in dieser Musik (dem Jazz) auf die Improvisatoren, die Spieler, ankomme. Ellingtons Aussage sei bemerkenswert, zumal Ellington vor allem als Komponist bekannt ist. Ellington habe auch gesagt, dass diese Musik im Wesentlichen in Bezug auf drei Spieler betrachtet werden könne: Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane. Die meisten anderen Musiker würden auf die eine oder andere Weise von diesen drei Musikern herkommen. Er (Coleman) habe das ein wenig zu stark vereinfacht, aber in gewisser Weise richtig gefunden. Ellington habe also drei Musiker genannt, die er als Giganten verstand, und zwar in Bezug auf eine grundlegende Veränderung, die sie auf der Basis ihres Spielens machten. (QUELLE sowie Näheres zur Entwicklung des Fundaments im Artikel Steve Coleman über Antriebskonzepte in afro-amerikanischer Musik: Link) Coleman konnte sich nicht mehr erinnern, wo er diese Aussage Ellingtons gelesen oder gehört hatte. – Die Aufnahmen von Armstrongs Hot-Five- und Hot-Seven-Band der Jahre 1925 bis 1928, die meisten Aufnahmen von Parkers Quintett der Jahre 1947 bis 1950 und die Aufnahmen von Coltranes Quartett der Jahre 1961 bis 1964 sind unumstrittene Meisterwerke. Sie führen besser als jeder abstrakte Definitionsversuch vor Augen, was die Jazz-Tradition in der Vergangenheit ausmachte.
  2. Mehr dazu später im Artikel Steve Coleman: Link
  3. Die Jazz-Kritik ist offenbar nicht (mehr) in der Lage, die Spreu vom Weizen zu trennen, und hat sich im deutssprachigen Raum weitgehend aufgelöst. Mehr dazu im Artikel Unübersichtlichkeit: Link
  4. Vijay Iyer: Vor allem im Bereich des Jazz entstehe ein Verständnis der Musik aus der Beziehung des Musikers zu seinem Körper, seinem Instrument, den Kollegen und der weiteren Kultur. Das habe auch Paul F. Berliner in Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation, 1994, so gesehen. Dessen Kernaussage sei, dass ein Musiker die für Jazz-Improvisation erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten hauptsächlich aus der Kombination eines Eintauchens in eine akkulturierte Gemeinschaft von Praktikern mit Stunden über Stunden des selbständigen Experimentierens auf seinem Instrument erlangt. (QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse:http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  5. QUELLE: Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman, Anfang 2003, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  6. QUELLE: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Interviews and Information/Interviews about the Music/Steve Coleman Interviews Sean Rickman, Video ab 1:02:00 Stunden/Minuten/Sekunden, veröffentlicht 2014, Internet-Adresse: http://m-base.net
  7. nicht nur als Hörer, sondern auch als Mitspieler
  8. QUELLE: Begleittext zu Mingus‘ Album Let My Children Hear Music, 1971, Internet-Adresse: http://mingusmingusmingus.com/Mingus/what_is_a_jazz_composer.html, eigene Übersetzung
  9. Charlie Parker sagte das wohl nicht konkret so, sondern Bunky Green leitete diese „Aussage“ Parkers offenbar aus Parkers Musik und seines Beitrags in der Jazzgeschichte ab.
  10. QUELLE: Interview anlässlich seines Konzertes im Rahmen des Jazz-Baltica-Festivals 2008, Gemeinschaftsproduktion der Fernsehsender ZDF, 3sat und NDR, 2008
  11. QUELLE: von Rudresh Mahanthappa am 9. August 2010 veröffentlichtes YouTube-Video mit dem Titel Apex (with Bunky Green) EPK, das eine Vorschau zu Mahanthappas Album Apex bietet, Internet-Adresse: http://www.youtube.com/watch?v=wuc-Np8W4kM, eigene Übersetzung
  12. QUELLE: Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman, Anfang 2003, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  13. Siehe zum Beispiel in den Artikeln Steve Coleman über Vibe und Billy Hart Interviews: Link, Link
  14. Siehe zum Beispiel in den Artikeln Steve Coleman über den Stellenwert von Virtuosität und Steve Coleman über Vibe: Link, Link

 

 

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