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JAZZ SPIRIT – 8. Wahrheit


          HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: The Legend of the Cheops (1977)

Diese Klänge öffnen ein Fenster in eine fantastische, sehr lebendige Welt.

          HÖRBEISPIEL: Woody Shaw: The Legend of the Cheops (1977)

Nach dem Titel des Stücks geht es hier um das alte Ägypten. Die Ästhetik der ägyptischen Kunstwerke ist bis heute reizvoll und die fantasievollen Mythen und sonstigen geistigen Leistungen dieser frühen Kultur laden ein, sie zu romantisieren. Sie diente aber auch dazu, der Bevölkerung eine Welterklärung vorzugaukeln, die brutale Macht und Ausbeutung rechtfertigte. Auch die schicke Fassade, die heute von Unterhaltungsmedien, Werbung, Shopping-Paradiesen und der Businesswelt produziert wird, hat oft Ausbeutung und Zerstörung im Hintergrund. In vielen Kirchen boten Deckengemälde einen Ausblick in ein lichtdurchflutetes Himmelsreich. Das gab den Leuten eine erfreuliche Perspektive. Hatten sie doch in einem harten, grauen Alltag gierige Oberschichten zu versorgen. Glanz und Gloria verbirgt nur allzu oft düstere Realität.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and the Council of Balance: Day Five (1997)

Der afro-amerikanische Schriftsteller Amiri Baraka sprach in einem Gedicht vom schönen, alten Afrika, das den Menschen hervorbrachte. Dort habe ihn sein eigener Bruder, der König, an einen Geist verkauft, der ihn über den Atlantik verschleppte. Auf dem Meeresgrund verlaufe ein Gleis aus Menschenknochen, wie aus Elfenbein, schwarzem Elfenbein.1)

Die Seelen in den Abgründen der Menschheit sind unsere Gefährten – ob wir es wollen oder nicht. Ohne Blick in die Abgründe bekommt man nicht mit, was Dasein bedeutet. Aber auch Fantasie und Spiel sind wichtig, denn durch sie lässt sich ausschöpfen, was an Glück möglich ist.

Das verklärte alte Ägypten ist eine hübsche, magische Welt und taucht in der afro-amerikanischen Musik immer wieder auf – manchmal in kunstvoller Form, manchmal in eher kitschiger.

          HÖRBEISPIEL: Mtume: Sais (1974)

Europa verehrte die griechisch-römische Antike. Sogar das US-amerikanische Parlamentsgebäude ist einem griechischen Tempel nachempfunden und noch immer ist ein Überlegenheitsanspruch so genannter „weißer“ Amerikaner verbreitet, der sich auf die europäische Kultur stützt. Afrika habe keine vergleichbare Zivilisation hervorgebracht. Menschen aus Afrika seien von Natur aus primitiver. Das ist natürlich falsch und menschenverachtend und hatte schon immer den Zweck, Unterdrückung und Ausbeutung zu rechtfertigen. Manche Afro-Amerikaner halten dagegen, dass die griechisch-römische Kultur zu einem großen Teil auf die noch ältere ägyptische zurückging und Ägypten Teil Afrikas ist. Für sie wurde das alte Ägypten zu einer Art imaginären kulturellen Heimat.2)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Beyond All We Know (1990)

The silent wind of life
can flow just out of reach of all we know
as the waters of the Nile flow thru the land.
Our children die.
Time passes by.
Long ago they were the kings
and queens of earth
and still their time will come
when the spirit of creative thought prevails.
Cycles ebb and flow – beyond all we know.
Der leise Wind des Lebens
kann außer Reichweite von allem strömen, was wir kennen,
so wie die Wasser des Nils durch das Land fließen.
Unsere Kinder sterben.
Die Zeit vergeht.
Vor langer Zeit waren sie die Könige
und Königinnen der Welt
und doch wird ihre Zeit erst kommen,
wenn der Geist des kreativen Gedankens siegt.
Zyklen ebben und fluten – jenseits von allem, was wir kennen.

Die frühen Kulturen von Ägypten, Mesopotamien, Phönizien und Griechenland entstanden in der Region, in der Afrika, Asien und Europa ineinander übergehen. Diese fruchtbare Region machte Arbeitsteilung, technologischen Fortschritt, Reichtum und Herrschaft möglich. Durch diese Region hindurch hatten sich ursprünglich die Menschen aus Afrika über die ganze Erde verbreitet und in dieser Region vermischten sie sich immer wieder – biologisch und kulturell. Geschickt waren sie schon immer und überall auf der Erde, auch wo die Lebensbedingungen weniger Entwicklung zuließen. Letztlich sind wir alle Afrikaner mit derselben Grundausstattung.

          HÖRBEISPIEL: Dee Dee Bridgewater: Footprints (Long Time Ago) (2007)

Birthplace of nations when life had its beginning.
We were a family we were of the same skin,
life in the beginning.
Footprints trace memories of long time ago.
Geburtsort der Völker, als das Leben seinen Anfang nahm.
Wir waren eine Familie, wir hatten dieselbe Haut,
am Anfang des Lebens.
Fußspuren verfolgen Erinnerungen aus lang vergangener Zeit.

Pharaonen, ihre Priester und fantastischen Geschichten, mit denen sie sich Bedeutung verliehen, begeistern mich nicht und an Alexander dem Großen erkenne ich nichts Großes außer Mord, Missbrauch und Raub in gewaltigem Ausmaß. In monumentalen Bauwerken – von den Pyramiden bis zu den abendländischen Kathedralen – sehe ich vor allem Schweiß, Blut, unnötiges Leid, wenig Schönheit.
Man muss die Herrschaftsmythen der Geschichte nicht immer weiterpflegen.

          HÖRBEISPIEL: The Revolutionary Ensemble: The People's Republic (1975)

Vieles ist ziemlich verrückt, was sich Menschen ausdachten, um sich in ihren sozialen Beziehungen zu positionieren, zu gruppieren, von anderen abzugrenzen, sich selber auf- und andere abzuwerten. In den USA sahen Gesetze die so genannte Ein-Tropfen-Regel vor: Wer irgendeine Abstammungslinie zu Sklaven aus Afrika hatte, sei es auch nur ein Tropfen afrikanisches Blut, der galt als schwarz und damit als minderwertig. So haben viele, die sich heute selbst als Afro-Amerikaner verstehen, auch einen europäischen, indianischen, asiatischen Anteil an Vorfahren. Die Sklaverei und die anschließende Diskriminierung bildeten eine soziale Realität, die die Bevölkerungsgruppe der Afro-Amerikaner in der heutigen Form ergab. Diese Leute brachten – besonders in der Musik – eine eigene, vielfältige Kultur hervor, die in immer wieder neuer Form die Welt mit Lässigkeit eroberte.3)

          HÖRBEISPIEL: Walter Wolfman Washington: You're Fine (1995)

Viele Afro-Amerikaner wollten einfach in die amerikanische Mehrheitsgesellschaft integriert werden, was für manche bis zu einem gewissen Grad letztlich auch zustande kam. Anderen, auch vielen Jazz-Musikern, war Gleichberechtigung in Verbindung mit eigener Identität und Kultur wichtig. Sie gaben der Andersartigkeit, die ihnen seit Jahrhunderten nachgesagt wurde, eine neue, nun positive Bedeutung. Was sie dabei an Sichtweisen entwickelten, etwa die Sicht des alten Ägyptens, hält nicht immer wissenschaftlichen Erkenntnissen stand. Aber das gilt noch viel mehr für die eurozentrische Überheblichkeit, gegen die sich die afrozentrische Sicht zur Wehr setzt.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Crescent (1964)

Der Schlagzeuger Max Roach wies darauf hin, dass Afro-Amerikaner über ihre Herkunft nichts Konkretes wissen. Sie kennen nicht einmal ihren richtigen Familiennamen, haben den Namen ihrer früheren Sklavenhalter. Manche gaben sich daher einen neuen Namen, zum Beispiel Amiri Baraka statt LeRoi Jones, Muhammed Ali statt Cassius Clay, Malcolm X verwendete die Unbekannte x aus der Mathematik als Familiennamen. Afro-Amerikaner konnten also nicht wie andere Amerikaner aus ihrer Herkunft eine kulturelle Identität ableiten, sondern mussten sich neu erfinden. Max Roach sagte: „Sie nannten uns und wir nannten uns selbst Negro – New Growth (neues Wachstum). Wir sind ein New Growth (ein Neuzuwachs) der Menschheit.“4)

          HÖRBEISPIEL: Booker Little: We Speak (1961, Max Roach: Schlagzeug)

Die Jazz-Meister griffen auf, was sie verwenden konnten, gingen offen auf andere Kulturen zu und verarbeiteten alles auf ihre eigene Weise.

Als Max Roach 1956 mit dem Pianisten Thelonious Monk in einem Aufnahmestudio war, sah er in einer Ecke Pauken stehen, wie sie in der europäischen Konzertmusik verwendet werden. Spontan fügte er sie seinem Schlagzeug hinzu5) und integrierte sie in sein Spiel.

          HÖRBEISPIEL: Thelonious Monk: Bemsha Swing (1956, Max Roach: Schlagzeug)

So ist die Kultur der Jazz-Meister weit aufgeschlossen und hat doch ihre eigenständige Tradition. Steve Coleman sagte, seine Mentoren Von Freeman, Thad Jones und Sam Rivers seien für ihn ein Fenster in die Ära von Charlie Parker, Duke Ellington und so weiter gewesen.6) Seine intensive Beschäftigung mit John Coltranes Musik brachte ihn auf das alte Ägypten, das für ihn zu einem wichtigen Bezugspunkt wurde.7) Coltrane wiederum bezog Anregungen von Sun Ra. Der erschien zwar als eher clownhafte Figur, war aber ein Kenner der damals schwer zugänglichen afrozentristischen Literatur, in der es viel um das alte Ägypten geht.8) Im Untergrund spielten diese Sichtweisen eine erhebliche Rolle und tauchten dann sogar in einem Video-Clip von Michael Jackson auf – Remember the Time (1992). Diese afrozentrischen Ideen sind mit viel emotionaler Bedeutung für eine afro-amerikanische Identität aufgeladen.9)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Ausar (Reincarnation) (1998)

Diese dramatische Musik stellt die Wiedergeburt des Pharaos dar, was Steve Coleman symbolisch verstand, als Regenerieren und Erreichen eines höheren Bewusstseins.10)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Ausar (Reincarnation) (1998)

Das hallende Saxofonspiel am Ende dieses Stücks hat Steve Coleman in der Grabkammer der Cheops-Pyramide aufgenommen. Er konnte abends, außerhalb des Touristenstroms in diesen mystischen, kultischen Raum gehen und dort spielen. Dabei verwendete er auch die Einleitungstöne von John Coltranes berühmtem Album A Love Supreme11), das eine besondere spirituelle Bedeutung im afro-amerikanischen Jazz hat.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Acknowledgement (1964, A Love Supreme)

Der Titel A Love Supreme meint eine allumfassende, göttliche Liebe, für die sich John Coltrane im Begleittext des Albums überschwänglich bei Gott bedankt. Die Idee einer überirdischen Liebe widerspricht all dem Elend auf der Erde und unbestreitbaren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Aber Gedanken dienen eben oft weniger dazu, die Welt zu verstehen als bestimmte Gefühle auszulösen. Vieles ist Storytelling, Geschichten erzählen.

          HÖRBEISPIEL: Leon Thomas: The Creator Has A Master Plan (1969)

There was a time, when peace was on the earth,
and joy and happiness did reign,
and each man knew his worth.
In my heart how I yearn for that spirit's return
and I cry, as time flies.
Es gab eine Zeit, als auf der Erde Friede war,
Freude und Glück herrschten
und jeder Mensch kannte seinen Wert.
Wie sehne ich mich in meinem Herzen
nach der Rückkehr dieses Geistes
und ich weine, während die Zeit verfliegt.

Die Vorstellung einer Welt voller Frieden und Glück oder göttlicher Liebe mag berühren, aber so funktioniert das Leben, die Natur nun einmal nicht.

Coltranes Musik ist eine viel stärkere Mitteilung als sein Glaubensbekenntnis im Text. Sie drückt sehr unmittelbar aus, was Leben wirklich ist – nicht bloß, was sich Menschen in ihren Köpfen zusammenreimen. Das gilt auch für die Musik anderer großer Meister des Jazz und das macht diese Musik so wahrhaftig.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Respiratory Flow (2012)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Quelle: Internet-Adressen: https://www.youtube.com/watch?v=_8R2iNKV6co&ab_channel=StateoftheArtsNJ und https://billmoyers.com/story/a-poet-a-day-amiri-baraka/
  2. Näheres: Link
  3. Näheres: Link
  4. Näheres: Link
  5. Quelle: Begleittext von Orrin Keepnews aus November 2007 zum Album Brillant Corners von Thelonious Monk
  6. Quelle: Preston Williams, Jazz talk episode 80 Steve Coleman. An in depth interview with Saxophonist Steve Coleman, YouTube-Video vom 6.2.2021, Internet-Adresse: https://www.youtube.com/watch?v=y7OUQUGtI70&ab_channel=JazzTalk
  7. Quelle: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 11: The Computer, Audio im Abschnitt 50:18 bis Ende, und M-Blog Episode 16: Egypt; beide veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  8. Quelle: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Blog/M-Blog Episode 16: Egypt, Audio im Abschnitt 0:17:19 bis 0:26:58; veröffentlicht 2014/2015, Internet-Adresse: http://m-base.net
  9. Näheres: Link
  10. Quelle: Begleittext von Steve Colemans Album The Sonic Language of Myth (1998)
  11. Quelle: DVD-Dokumentarfilm Elements of One, aufgenommen 1996 bis 2002, von Eve-Marie Breglia, CHOD Productions

 

 

 

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