Radio / Videos
Verzeichnis aller Artikel
Sowohl der typische Rhythmus der Musik, die als Ragtime um die Welt ging, als auch die Jazz genannten Spielweisen auf Blasinstrumenten, die durch Musiker wie Louis Armstrong berühmt wurden, stammten aus der Subkultur der afro-amerikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren.1) Selbst als sich Armstrong schließlich einem „weißen“ Publikum mehr verbunden zeigte als einem afro-amerikanischen2), erschien er als exotische Figur aus dieser Subkultur, allerdings in einer eher grotesken Rolle, die ihm das Unterhaltungsgeschäft auferlegte.3) – Duke Ellington kam aus einem ganz anderen Milieu4) und die ersten Aufnahmen mit seiner eigenen Band hatten noch wenig Jazz-Charakter. Doch bezog er schon bald verstärkt expressive Spielweisen aus der Subkultur des Südens in seine Musik ein und verband sie mit Arrangier- und Kompositionstechniken zu einer eigenen Form von Jazz.5) In der afro-amerikanischen Schule, die Ellington (geboren 1899) in seiner Heimatstadt Washington, D.C., besuchte, hatte er afro-amerikanische Geschichte und Selbstbewusstsein als Afro-Amerikaner vermittelt bekommen, was damals ungewöhnlich war.6) In New York, wohin er im Jahr 1923 übersiedelte, kam er mit der literarischen, künstlerischen und politischen Bewegung in Berührung, die Harlem-Renaissance genannt wird.7) Dabei wurde er, wie auch viele andere Jazz-Musiker, nachhaltig von panafrikanischen Ideen beeinflusst8), nach denen alle von Afrikanern Abstammende eine Einheit bilden, egal wo sie auf der Erde leben. Die Nachfahren der als Sklaven in die westliche Welt verschleppten Afrikaner wurden dementsprechend als in der Diaspora lebende Angehörige eines afrikanischen Volkes verstanden. Diese Ideen förderten die afro-amerikanische Identitätsfindung und später sowohl die Bürgerrechtsbewegung in den USA als auch den Kampf um Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten in Afrika. Die bedeutendsten frühen Vertreter des Panafrikanismus waren der US-Afro-Amerikaner W.E.B. Du Bois (1868-1963) mit einer mehr integrationistischen Haltung und der aus Jamaika in die USA eingewanderte Marcus Garvey (1887-1940) mit einer separatistischen Ausrichtung. – Im Jahr 1931 sagte Ellington: Seine Leute und seine „Rasse“ seien die Inspiration seines Werkes. Er versuche, den Charakter, die Stimmung und das Gefühl seiner Leute einzufangen. Die Musik seiner „Rasse“ sei mehr als ein amerikanisches Idiom. Sie sei „das Ergebnis unserer Verpflanzung auf amerikanischen Boden“ und in der Zeit der Plantagen sei sie „unsere Reaktion auf das Leben, das wir lebten,“ gewesen.9) Bereits Ende der 1920er Jahre sprach sich Ellington gegen die Bezeichnung „Jazz“ aus und er versuchte stattdessen, den Namen „Negro Music“ durchzusetzen.10) Im Jahr 1939 erklärte er, seine Musik sei stets eindeutig und ausschließlich als „rassisch“ zu verstehen.11)
Als Duke Ellingtons Band 1930 im Film zweier populärer Komödianten mitspielte, mussten sich zwei hellhäutige Bandmitglieder das Gesicht schwarz anmalen, damit beim Publikum nicht der Eindruck entstehen konnte, in einer „schwarzen“ Band würden zwei „weiße“ Musiker mitspielen und so die Trennung der „Rassen“ durchbrechen.12) Im Jahr 1936 wurde Count Basies Band engagiert, um mit „weißen“ Tänzerinnen aufzutreten. Diese mussten aber „schwarze“ Masken und „Mammy“-Kleider tragen, da das Management die Kombination einer „schwarzen“ Band mit „weißen“ Tänzerinnen als zu provokant betrachtete. Die hellhäutige afro-amerikanische Sängerin der Band, Billie Holiday, hatte sich das Gesicht dunkel zu schminken, weil befürchtet wurde, dass das Publikum sie bei ungünstigem Lichteinfall für „weiß“ halten könnte. Basie war wütend, aber vertraglich gebunden.13) Das ereignete sich in Detroit, einer nördlichen Großstadt, also in einem noch eher liberalen Teil der USA, wo nicht wie in den Südstaaten eine „Rassentrennung“ sogar gesetzlich angeordnet war. Auf Tourneen in den Süden waren Afro-Amerikaner weit Schlimmerem ausgesetzt. Louis Armstrong kam 1931 mit seiner Band in einem gemieteten Bus nach Memphis, Tennessee, und der Bus wurde von einem Polizisten angehalten, weil er sah, dass Armstrong neben einer „weißen“ Frau saß, der Frau seines Managers, mit der er geschäftliche Dinge besprach. Aus diesem Grund wurde die gesamte Band ins Gefängnis gesperrt und Armstrong riskierte am Tag danach in seinem Konzert noch Ärgeres, indem er auf geschickte, verdeckte Weise die Polizei verhöhnte.14) – Die Diskriminierung afro-amerikanischer Musiker war allgegenwärtig15), die häufigen Attacken rassistischen Mobs waren verletzend, im Süden sogar lebensgefährlich16) und auch während der Swing-Modewelle erhielten die hervorragenden afro-amerikanischen Bands nicht jenen Anteil am Erfolg, der ihnen gebührt hätte17). Um die Gunst des überwiegend „weißen“ Publikums und der ausschließlich „weißen“ Jazz-Kritiker nicht zu verlieren, mussten Afro-Amerikaner Benachteiligungen lächelnd hinnehmen. Jedes „farbenblinde“ Romantisieren18) und nostalgische Verklären zu einer goldenen, beschwingten Ära ignoriert Bedingungen, die Afro-Amerikaner geradezu zwangen, sich als eigene Volksgruppe zu verstehen.
Eine eigene Tradition bildeten afro-amerikanische Jazz-Musiker aber auch durch ihre speziellen Auffassungen von musikalischer Qualität und durch eine entsprechende Ausgestaltung ihrer Musik. Das zeigen zum Beispiel die 1932 gemachten Aufnahmen der Band von Benny Moten, die in Kansas City zuhause war, und die Musik der Band von Count Basie, die den dortigen Stil nach New York brachte. Dieser Kansas-City-Jazz hatte in Bezug auf Kompositions- und Arrangierkunst nicht Ellingtons Raffinesse und reflektierte auch nicht Ellingtons intellektuelles Selbstverständnis, doch war er wesentlich direkter mit der Subkultur des Südens, mit Blues und heißen Tanzveranstaltungen verbunden. Basie musste die Musik seiner Band etwas an die Anforderungen des New Yorker Entertainments anpassen und manche seiner Aufnahmen wirken dadurch ein wenig schlagerartig wie übliche Swing-Stücke der damaligen Mode. Doch bewahrte er genug, um immer wieder die vitale Jazz-Qualität seiner eigentlichen Musik im Vergleich zu den damaligen „weißen“ Nachahmungen afro-amerikanischer Musik deutlich hörbar zu machen. Der lockere, geschmeidige, unwiderstehlich swingende Rhythmus, der lebendige, bluesnahe, fruchtige Sound der Band und die Beiträge ihrer herausragenden Solisten vermitteln ein Musikverständnis, Bewegungs- und Lebensgefühl, wie es nirgendwo in der vorherrschenden „weißen“ Kultur zu finden war.19)
Natürlich bezogen afro-amerikanische Jazz-Musiker seit jeher viel aus europäisch-stämmiger Musikkultur. Besonders offensichtlich waren diese Anteile zum Beispiel in der Musik des Pianisten Art Tatum. Doch die Art, wie Tatum sie einsetzte, war die Weiterentwicklung einer aus afro-amerikanischer Plantagen-Subkultur abgeleiteten Tradition. Einige europäische beziehungsweise europäisch orientierte Autoren missverstanden Tatums Werk und beschädigten sein Ansehen mit ungerechtfertigter Kritik.
Mehr dazu: Art Tatum in Farbe
In Ellingtons Augen war „Bop [Bebop] die Erweiterung von Marcus Garvey“.20) In musikalischer Hinsicht ist diese Sichtweise insofern nachvollziehbar, als junge Musiker der Bebop-Bewegung der 1940er Jahre wie Charlie Parker und Dizzy Gillespie Anregungen von afro-kubanischen und afrikanischen Musikern bezogen und das als Entdecken ihrer Identität, also in einem panafrikanischen Sinn verstanden. Das Wiederverbinden mit verlorengegangenen afrikanischen Wurzeln wurde zu einem starken Motor für die Weiterentwicklung des Jazz, und zwar bis in die Gegenwart.21) Der Schlagzeuger Max Roach, der an der Bebop-Bewegung maßgeblich beteiligt war, erklärte später zum Interesse an Afrika: Das habe sich alles durch Garvey ergeben. Garvey sei in der schwarzen Community einer der bedeutenden Helden gewesen und geblieben.22)
Roach und seine damalige Frau Abbey Lincoln widmeten ihre Musik Anfang der 1960er Jahre ihrem Engagement für die Bürgerrechtsbewegung, was ihnen erhebliche Schwierigkeiten im Musikgeschäft einbrachte.23) Roachs erstes und bekanntestes Album mit politischer Botschaft, die Freedom Now Suite, wurde im August und September 1960 aufgenommen, als die Bürgerrechtsbewegung gerade in Gang gekommen war.24) Bereits zweieinhalb Jahre zuvor wirkte Roach an Sonny Rollins‘ Freedom Suite (März 1958) mit25), deren politische Aussage nur aus dem Titel und dem Begleittext des Albums26) ersichtlich war, nicht aus der Musik selbst wie dann bei Roachs Suite durch Abbey Lincolns Gesang. Rollins war bereits ein von Jazz-Kritikern viel gelobter junger Musiker27) und dieses frühe politische Statement entsprach dem geistigen Klima, in dem er aufgewachsen war. Bereits als Kleinkind hatte ihn seine Großmutter, eine Garvey-Anhängerin, auf Demonstrationen mitgenommen, unter anderem für Paul Robeson, für W.E.B. Du Bois und gegen die italienische Invasion in Äthiopien.28) Seine Freedom Suite wurde wegen des politischen Inhalts in der Jazz-Presse so heftig kritisiert, dass die Plattenfirma den Verkauf des Albums stoppte und es kurz darauf unter einem unverfänglichen Titel29) ohne Rollins Begleittext neu veröffentlichte.30) Rollins verstand auch den Titel seines im Jahr 1954 mit Miles Davis aufgenommenen Stückes Airegin als politische Aussage31), da dieser Titel von hinten gelesen Nigeria ergibt und Stolz auf die Abstammung aus Afrika ausdrücken sollte32). Das Verdrehen des Wortes, das die Botschaft unkenntlich machte, erklärte Rollins damit, dass die Anspielung auf das damals noch in britischem Kolonialbesitz befindliche Nigeria als zu kompromittierend empfunden worden wäre. Jazz zu spielen, sei allein schon problematisch genug gewesen.33)
Umso weniger Sinn hätte politischer Protest wohl für die Musiker der Bebop-Bewegung der 1940er Jahre gemacht, die schon aufgrund ihrer Musik massiven Anfeindungen ausgesetzt waren und wirtschaftlich kaum überleben konnten.34) Jedoch war ihnen natürlich ihre gesellschaftliche Situation als Afro-Amerikaner sehr wohl bewusst und ein Selbstverständnis vertraut, das über ihre Lage in Amerika hinauswies und sich auf Afrika bezog. Nach Gillespies Aussage war er sowie auch Charlie Parker sehr an den gesellschaftlichen Verhältnissen interessiert.35) Gillespie verehrte zum Beispiel den älteren36) afro-amerikanischen Schauspieler und „klassisch“ orientierten Sänger Paul Robeson37), der seine glänzende internationale Karriere seinem Engagement für die Rechte der Afro-Amerikaner, der damals noch von den Kolonialmächten beherrschten afrikanischen Völker sowie letztlich aller unterdrückten Menschen opferte. Robeson verstand sich bereits Mitte der 1930er Jahre selbst als Afrikaner und das hatte für ihn zentrale Bedeutung.38) Er erlernte afrikanische Sprachen39), unterhielt Beziehungen zu Afrikanern (unter anderem zu späteren Staatsoberhäuptern40)) und träumte nicht nur von einem politischen, panafrikanischen Zusammenschluss, sondern auch von einer vereinten „schwarzen“ Kultur, die einen frischen, humanen Geist in die Welt bringen würde41). Nur Garvey vermittelte zuvor mehr „Schwarzen“ in den USA, in Afrika und in der Karibik afrikanisches Selbstbewusstsein, als es Robeson damals gelang.42) Hohe Wertschätzung hatte Gillespie später auch für Malcom X43), Sohn eines Garvey-Anhängers, der in den 1960er Jahren angesichts der bescheidenen Erfolge und großen Opfer der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung für einen radikalen Kampf eintrat44). Gillespies Einstellungen sind dank seiner Memoiren besser ersichtlich als die vieler anderer Musiker seiner Zeit, aber die Botschaften der bedeutenden afro-amerikanischen Aktivisten spielten allgemein eine wesentliche Rolle in afro-amerikanischen Communitys. Zumindest insgeheim waren viele Afro-Amerikaner politisch interessiert, denn in ihrer bedrückenden Situation als diskriminierte Minderheit hofften sie auf Verbesserungen und Auswege.45) Garveys Wirken war dabei viel weiter über seine Zeit hinaus präsent, als früher von Historikern wahrgenommen wurde.
Mehr zu Garveys Einfluss: Schwarzer Stern
Die Bebop-Bewegung kann aber auch auf einer fundamentaleren Ebene mit Garvey in Verbindung gebracht werden: Es war von diesen Musikern sehr kühn, sich restlos der Entwicklung dieser Musik zu widmen, die keine Tanz- und Unterhaltungsfunktion erfüllte, in keine etablierte Kategorie von Kunst passte, selbst von vielen (älteren) Jazz-Musikern abgelehnt wurde und Ausdruck einer städtischen afro-amerikanischen Subkultur war, die nicht nur die „weiße“ Mehrheitsgesellschaft, sondern auch so mancher Afro-Amerikaner als abstoßend empfand46). Diese Musik enthielt einen kompromisslosen Willen, sich nicht zu integrieren, sowie des Stolzes auf eigene Fähigkeit und Kreativität. Damit spiegelte sie jenen alten afro-amerikanischen Geist der Selbstbehauptung wider, den in politischer Hinsicht vor allem Garvey verkörperte. Wenn Afro-Amerikaner nicht vom unwürdigen Bild ihrer Person, das ihnen die rassistische Behandlung alltäglich auferlegte, erdrückt werden wollten, mussten sie dem ein eigenes, wertschätzendes Verständnis von sich selbst entgegenhalten. Ihre spezielle Volkskultur, vor allem ihre Art der Religionsausübung und ihre Musik, sowie ihr Gemeinschaftsleben halfen ihnen schon lange dabei. Im größeren gesellschaftlichen Kontext mussten sie Vorstellungen, Erklärungen, Bilder und Perspektiven entwickeln, die ihnen Platz, Wert und Hoffnung geben. Das war angesichts der weltweiten Überlegenheit westlicher „Zivilisation“ und der marginalisierten Rolle der Afro-Amerikaner in ihr schwierig. Garvey gelang es in breitenwirksamer Weise und die Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen der Harlem-Renaissance der 1920er Jahre arbeiteten auf ihre überwiegend integrationistische Art daran.47) Jazz-Musiker, und zwar dann besonders die Schöpfer der Bebop-Bewegung der 1940er Jahre und ihre Nachfolger, präsentierten mit ihrer Musik auf nonverbale Weise eine hochdifferenzierte, selbstbewusste kulturelle Identität junger afro-amerikanischer Städter. Ihr Selbstverständnis vereinte viele Komponenten und enthielt vor allem auch einen sehr dynamischen Faktor: ihre Kreativität, mit der sie sich gewissermaßen selbst erschufen. Sie waren verstreute Angehörige eines heimatlosen Volkes, brachten aber gerade aus dieser Lage heraus einen besonders vielschichtigen, schillernden Ausdruck menschlicher Lebendigkeit zustande, der aufgrund seiner künstlerischen Brillanz unbezwingbar war.
Max Roach sagte: „In Amerika haben wir schwarzen Amerikaner, wie man uns nannte, keine Vergangenheit. Wenn man einen europäischen Einwanderer fragt, woher er kommt, dann antwortet er: Ich stamme aus Frankreich; mein Urgroßvater war Franzose; er kam aus diesem oder jenem Teil Frankreichs und er spricht Französisch. Oder er sagt: Ich bin Italiener und meine Familie kommt aus Süd-Italien. Oder: Ich bin aus Deutschland. Bei den Indianern und Asiaten ist die Abstammung natürlich sofort offensichtlich. Amerika ist ein Schmelztiegel aller Völker der Welt. Nur einer wie ich hat keine Vergangenheit. Es ist erstaunlich, aber wenn mich jemand fragt: Max, woher kommst du? Dann kann ich nur antworten: Aus New York City. – Wo ist unsere Vergangenheit geblieben? Warum haben Charlie Parker, Thelonious Monk, Count Basie, Jelly Roll Morton und Louis Armstrong keine Sprache? Fragt man Louis Armstrong, woher er stammt, sagt er: New Orleans. Count Basie würde antworten: New Jersey; Thelonious Monk: North Carolina. Miles Davis würde sagen: East Saint Louis. Aber welche Sprache spricht man dort und was für eine Geschichte haben die Menschen? Miles Davis sieht nicht wie ein gebürtiger Amerikaner aus, sondern wie ein Afrikaner, sagen die Leute. Aber wir wissen überhaupt nichts über Afrika. – Wir mussten kulturell und musikalisch ganz von vorne anfangen. Louis Armstrong sagt: Wow, das ist eine Trompete! Jelly Roll Morton sagt: Das ist ein Klavier! Da wir nicht das Privileg hatten, aufs Konservatorium zu gehen, mussten wir uns selbst etwas einfallen lassen und das brachte Louis Armstrong, Charlie Parker, Miles Davis und uns alle hervor. Alles, was wir hervorbringen, ist gewissermaßen neu. Und später sieht man dann die großartigen Basketballteams mit ihren riesigen Spielern, die wie Balletttänzer sind. Das alles war eine völlig neue Welt und wir kamen sauber und frisch daher. Sie nannten uns und wir nannten uns selbst Negro – New Growth (neues Wachstum). Wir sind ein New Growth (Neuzuwachs) des Menschengeschlechts.“48)
Später hervortretende kreative Jazz-Musiker erweiterten das Spektrum. Zum Beispiel verband Ornette Coleman Blues-Elemente mit einem avantgardistischen Ansatz und eröffnete damit eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich in einer expressiven Weise auszudrücken, die bei aller Freizügigkeit an afro-amerikanische Traditionen anknüpft.49) Sun Ra bildete in leuchtenden Farben und mit einer Mischung aus Absurdität und Zauber fantastische Geschichten ab, die Afro-Amerikanern wenigstens in einer mythologischen Welt ein fruchtbares Stück Land zuwiesen. John Coltrane gab der innigen Hingabe, die in religiösen Ritualen der Afro-Amerikaner seit jeher die Lebenskraft stärkte, eine weltoffene und geistvolle Form. Steve Coleman bereiste die Welt mit hellwachem, inspiriertem Geist und bildete das Ganze in brillanter, komplexer Weise mit einem Zugang ab, der tief in afro-amerikanischen Traditionen verankert ist. Noch als 60-Jähriger sagte er, der „größte Einfluss“ auf ihn sei die Tatsache gewesen, dass er in einem ausschließlich „schwarzen“ Umfeld Chicagos aufwuchs.50) Seine Wurzeln seien dort und das habe sein Leben enorm beeinflusst. Chicago habe eine starke Blues-Szene, eine starke Rhythm-and-Blues-Szene und eine starke Jazz-Szene gehabt und es sei eine sehr segregierte51) Stadt. Bevor er 18 Jahre alt wurde, habe er niemand „Weißen“ gekannt, und wie sehr Chicago segregiert ist, habe er erst gemerkt, als er es verließ.52)
Das sind einige Aspekte der vielen Bedeutungen des Jazz, die mit afro-amerikanischer Identität in Verbindung gebracht werden können. Die Eigenständigkeit und die Selbstbehauptung dieser Musikkultur geben der Musik eine Bedeutung, die vor allem jene Hörer ansprechen kann, die ihr eigenes Selbstverständnis nur wenig aus der Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft beziehen.
Zurück zu Botschaften
——————————————————
Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt
werden.