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Beweglicher Sound


„Es war die Bewegung der musikalischen Sounds, das diese Musiker [Musiker wie Charlie Parker] am meisten beschäftigte. Oft übersehen das Akademiker, die gewohnt sind, Musik mithilfe der Werkzeuge der Notation zu analysieren, statt zu realisieren, dass Musik vor allen Dingen Sound ist und Sound immer in Bewegung ist. Es waren die Bereiche des Rhythmus und der Melodie, wo das meiste der Komplexität konzentriert war.“ (Steve Coleman)1)

Im Spiel der Meister des Jazz ist auch die Soundgestaltung auf die große Bedeutung des Bewegungsmoments abgestellt. So schrieb Gunther Schuller über die Improvisationskunst von Louis Armstrong: „Selbst wenn wir eine einzelne Viertelnote aus dem Zusammenhang einer Phrase isolieren, können wir klar den Vorwärtsschub der Note hören und in ihm nehmen wir die unverkennbare Persönlichkeit Armstrongs wahr. Es ist, als würden solche Noten aus den Grenzen ihrer rhythmischen Platzierung ausbrechen wollen. Sie wollen mehr tun als eine einzelne Note machen kann, sie wollen den Überschwang einer ganzen Phrase ausdrücken.“2)

Traditionelle west-afrikanische Trommelmusik bezieht sich auf einen Tanz, der die in ihr enthaltenen Bewegungen ausdrückt. Die improvisierten Melodielinien des Jazz stellen die Bewegungen hingegen selbst dar, zwar nicht sichtbar, aber doch mit dem Bewegungsgefühl nachvollziehbar, und ihr virtueller Charakter ermöglicht faszinierende Bewegungsverläufe, zu denen kein Tänzer in der Lage wäre. Charlie Parkers Soli auf seinem Alt-Saxofon bestehen aus großartigen, eleganten Vogelflugschleifen, atemberaubenden Loopings, „knöchelbrecherischen“3) Wendungen und perfekt getimten Landungen. In seinen flinken Läufen ist die Expressivität der Klagfarben häufig zugunsten der Beweglichkeit und Flüssigkeit zurückgenommen. Mitunter huschte Parker mit einer „flüsternden“4), aber fein artikulierten Spielweise durch gewundene Sonderwege. Mit extremer Gewandtheit erzeugte er ein Gefühl der Erhebung, der Befreiung und des souveränen Schwebens über den Dingen.

Der Sound gibt der Bewegung Gestalt, er bildet quasi den Körper, der sich bewegt, und so wie Tänzer mit unterschiedlicher Statur entsprechend unterschiedliche Stile entwickeln, so bewegen sich die Meister-Improvisatoren des Jazz mit jeweils eigenem Sound auf ihre spezielle Weise. John Coltrane war im Vergleich zu Charlie Parker ein größerer, schwererer, mächtiger Tänzer. Auch wenn er oft in hohem Tempo spielte, so wirkte er zugleich doch weniger wendig, flink und rhythmisch subtil als Parker. Das ergab sich schon dadurch, dass er primär das größere Tenor-Saxofon5) spielte, aber auch aus dem Wesenszug seines Ausdrucks, der weit über den körperlichen Aspekt hinausgeht. Coltranes Sound ist voller Leidenschaft, Hingabe, aber auch Festigkeit und Standhaftigkeit. Seine Bewegungen sind oft gewaltig, nehmen einen riesigen Raum in Anspruch und beherrschen ihn mit einer beeindruckenden Intensität. Ein Aufbäumen und Aufschwingen liegt in seinem Spiel, aber auch Erhabenheit und Würde. Viele seiner Melodielinien verlaufen mit einer faszinierenden Dynamik, die wie ein Sog den Hörer in ihren Bann zieht.

Coltrane suchte ständig nach Möglichkeiten, seine Musik weiterzuentwickeln, und in den 1960er Jahren kamen die wichtigsten Anregungen, die er dafür von anderen Jazz-Musikern bezog, aus jenem, ein paar Jahre zuvor entstandenen Bereich, der als Free-Jazz oder Avantgarde bezeichnet wird. Anfang der 1960er Jahre beeinflusste ihn vor allem der Alt-Saxofonist Ornette Coleman mit seiner damals revolutionär unbekümmerten Art, in der er seinen melodischen Einfällen folgte. Ornette Coleman spann „volksliedhaft einfache Melodien tonartfrei oder locker auf ein tonales Zentrum6) bezogen“7) mit melodischer Logik8) und mit kräftigem, urigem Blues-Ausdruck fort. Sein beißend scharfer Ton9), seine „im Prinzip einfache“ Rhythmik10) und sein insgesamt „ungeschliffenes“, weder virtuoses noch harmonisch ausgefeiltes Spiel11) wirken jedoch im Vergleich zu den äußerst raffiniert gestalteten Linien Charlie Parkers roh und simpel. – Eric Dolphy, der neben dem Alt-Saxofon auch Flöte und Bassklarinette spielte, verfügte im Vergleich zu Ornette Coleman einerseits über wesentlich fundiertere musiktheoretische Kenntnisse und über eine virtuose Technik. Andererseits stellte seine mehr auf Akkorde bezogene Spielweise ein etwas weniger revolutionär wirkendes und weniger einflussreiches Gegenmodell zur Jazz-Tradition dar als Ornette Colemans Konzept. Dolphys Spielweise ist unverkennbar von Charlie Parker abgeleitet, aber in mehrfacher Hinsicht extrem: Sein Ton hat eine geradezu penetrante Schärfe, die oft in schrillen Trillern, schreiartigen Lauten, einem Wimmern oder anderen stimmähnlichen Ausbrüchen noch gesteigert wird.12) Seine Läufe sind voller abrupter Richtungswechsel und wilder Sprünge in höchste Höhen und in die Tiefe13), sodass gezackte, sperrige, verwinkelte und zerrissene Linien entstehen. In harmonischer Hinsicht klingt sein Spiel oft schräg bis gespenstisch14) und eine melodiöse Qualität vermied er weitgehend15). So originell, dramatisch, avanciert und einfallsreich seine Improvisationen auch sind, so wirken sie aus der Perspektive des Bewegungsaspekts doch auch bizarr, grotesk, angespannt und überspannt16). Damit unterscheidet sich ihr Feeling wesentlich von der Geschmeidigkeit, Eleganz und melodisch-rhythmischen Raffinesse von Charlie Parkers Höhenflügen.

Dolphy spielte im Jahr 1961 und fallweise auch danach in John Coltranes Band. Die jungen Tenor-Saxofonisten Pharoah Sanders und Archie Shepp, mit denen Coltrane in den Jahren 1965 bis 1967 zusammenarbeitete, setzten sich dann völlig von der Parker-Linie ab und konzentrierten sich wie viele andere so genannte Free-Jazz-Musiker ganz auf expressive, dramatische Klänge. Melodik, Rhythmik und Harmonik wurden dabei radikal zurückgestellt. Obwohl Coltrane in seinem eigenen Spiel seine Art der anspruchsvollen musikalischen Strukturierung bewahrte17), kam seine Musik in seinen letzten Jahren trotz rasender Phrasen insofern zum Stillstand, als sie beim Hörer kaum mehr ein Bewegungsgefühl im Sinne eines Grooves erzeugen. Insgesamt verlor das swingende, groovende Bewegungsmoment im avantgardistischen Bereich des Jazz stark an Bedeutung. – Einen Gegentrend dazu schien die Rock-Jazz-Fusion der 1970er Jahre mit ihren eingängigen Rhythmen aus der Tanzmusik zu bilden. Doch blieb in dieser Stilrichtung das Spiel mit der Bewegung überwiegend einfach und letztlich beruhte die Wirkung dieser Musik ebenfalls primär auf effektvollen Sounds, nämlich den modischen Sounds der damals neuartigen elektrischen und elektronischen Klangerzeugung. Diese technisch aufgeblähten Klänge zwangen geradezu zu einer Reduktion der Melodielinien, wie Miles Davis feststellte.18)Eine weitere stilistische Richtung, die im Jazz der 1970er Jahre populär wurde, repräsentierte vor allem der Pianist Keith Jarrett mit seinen zu europäisch-klassischem Schönklang neigenden Solo-Konzerten.19) Dieser von „weißen“ Musikern dominierten Richtung lässt sich ein breites Spektrum zurechnen, in dem europäische Romantik, antiquierter Künstlergeniekult20) und lyrische Stimmungen eine wesentliche Rolle spielten. Besonders in Europa wurde dieser Stilbereich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten gepflegt sowie ausgeweitet21) und dadurch wurde der Jazz für viele Hörer zu einer Art Konzertmusik, die in einer beschaulichen Weise genossen wird22). Beliebt wurden auch Anleihen aus anderen Musikkulturen, die für Exotik sorgen23) und ebenfalls gut in das Konzept der traditionellen europäischen Musikdarbietung passen, bei der einem bewegungslos zuhörenden Publikum atmosphärische Bilderwelten geboten werden. – All diese bis in die Gegenwart fortbestehenden Tendenzen, einschließlich des avantgardistischen Bereichs, entfernten sich von der großen Kunst des rhythmisch-melodischen Bewegungsspiels von Musikern wie Parker und Coltrane.

Die auf diese Meister bezogene Tradition bestand daneben aber durchaus fort. Ihr gehörten zunächst vor allem ältere Musiker an, die sich in Parkers oder Coltranes Zeiten entwickelt hatten, unter anderem herausragende, kreative und auch innovative Improvisatoren wie der Tenor-Saxofonist Von Freeman (geboren 1923) und der Trompeter Woody Shaw (geboren 1944). Sie bereicherten die Tradition der kunstvollen Gestaltung melodischer Linien mit persönlichen Erweiterungen, bewirkten allerdings nicht eine mit Parker und Coltrane vergleichbare Weiterentwicklung. Insbesondere setzten sie sich kaum mit der Herausforderung auseinander, die sich durch das Auftauchen neuartiger Grooves in der Tanzmusik für den Jazz ergab, und so wirkten sie mit ihrem nach wie vor überwiegend auf einen Walking-Bass bezogenen Grundrhythmus eher bewahrend. Ab den 1980er Jahren kamen zu dieser traditionellen Linie junge Musiker wie der Trompeter Wynton Marsalis hinzu, von denen viele ihre Ausbildung in den damals zunehmend verbreiteten Jazz-Schulen erhalten hatten. Der Verschulungstendenz entsprechend erreichten zwar etliche von ihnen ein hohes technisches Niveau, doch blieb ihr stilistischer Bereich auf eine weitgehende Nachahmung früher entwickelter Spielweisen beschränkt.

Mitte der 1980er Jahre taten sich in New York junge afro-amerikanische Musiker zusammen, um eine kreative eigene Musik zu entwickeln, die auf die Gegenwart bezogen ist und die Erfahrungen aus der afro-amerikanischen Unterhaltungsmusik ihrer Jugendzeit ebenso einbezieht wie das Vorbild der Meister der Jazz-Tradition. Sie wollten eine banale Kategorisierung ihrer Initiative und ihrer individuellen Stile durch Jazz-Kritiker verhindern und dachten sich zu diesem Zweck den ein wenig rätselhaft gehaltenen Begriff „M-Base“ aus, der ihre generelle Ausrichtung bezeichnen sollte. Als der kreativste und einflussreichste von ihnen erwies sich bereits damals der Alt-Saxofonist Steve Coleman.24) Er wurde als Jugendlicher von James Browns Funk-Grooves beeinflusst und schon als er begann, sich das Improvisieren beizubringen, faszinierten ihn Charlie Parkers rhythmisch-melodische Linien. Steve Colemans Aufnahmen aus dem Jahr 1990 sind seine ersten ausgereiften und sie präsentierten eine neuartige Musik mit rhythmischen Strukturen, die komplexer als alle bisherigen im Jazz waren und zugleich starken Groove erzeugten. In dieser Musik zirkulierten alle Bezugspunkte in unterschiedlichen, aber wohl aufeinander abgestimmten Bewegungen.25) Über dieser außerordentlich dynamischen Basis entfaltete Coleman ein ebenso kunstvolles Spiel der Linien, für das er ein eigenes System melodischer Logik entwickelte.26) Ein wichtiger Ausgangspunkt für dieses System war seine Idee, Flugmuster von Bienen musikalisch nachzubilden, und er bezog sich auch später immer wieder auf Bewegungsabläufe in der Natur und im Sport. Sein Saxofon-Sound war auf seine Präferenz für eine raffinierte Gestaltung von bewegungsreichen Linien abgestellt, entsprechend schlank, klar und geschmeidig. Sein „Tanz der Linien“ ist derart elegant, detailreich, brillant und offenbart eine so reiche, großdimensionale Konzeption, dass er zweifelsohne als einer der herausragenden Improvisatoren der Jazz-Geschichte zu betrachten ist.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  2. QUELLE: Gunther Schuller, Early Jazz, 1986/1968, S. 91, eigene Übersetzung
  3. Ausdruck von Steve Coleman in Verbindung mit der Wendigkeit von Top-Basketballspielern (QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link)
  4. QUELLE: Steve Coleman, The Dozens: Steve Coleman on Charlie Parker, 2009, Internet-Adresse: http://m-base.com/the-dozens-steve-coleman-on-charlie-parker/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  5. Coltrane spielte auch (eine Zeit lang verstärkt) das (hohe) Sopran-Saxofon. Parker spielte das (mittlere) Alt-Saxofon.
  6. ein Ton, auf den sich das gesamte musikalische Geschehen zumindest in loser Weise bezieht
  7. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 226
  8. Gunther Schuller: Sein Spiel habe eine tiefe innere Logik. (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 225)
  9. Peter Niklas Wilson: „Im hohen Register attackierte [Ornette] Coleman den Ton oft so vehement, dass er sich krächzend überschlug oder in einen Mehrklang umkippte, und generell hatte sein Ton eine schneidende Intensität, die nicht immer angenehm berührte.“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson, Ornette Coleman. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1989, S. 43)
  10. Ekkehard Jost: „Ornette Colemans Rhythmik ist – verglichen mit der Charlie Parkers – im Prinzip einfach. Weitaus mehr als andere Jazzmusiker seiner Zeit spielt er über Takte hinweg gleichmäßig akzentuierte Achtel- oder Viertelgruppen oder einfache Patterns […], wie sie aus dem Swing geläufig sind. […] Diese rhythmische Einfachheit gibt der Musik Colemans gelegentlich etwas von der Naivität von Folksongs […].“ (QUELLE: Ekkehard Jost, Free Jazz, 2002, S. 65)
  11. Peter Niklas Wilson: „Colemans Musik hatte für viele eine zu ungeschliffene Qualität, […] war harmonisch keineswegs so ausgefeilt wie die Parkers – und […]: Colemans Virtuosität war mitnichten so über alle Zweifel erhaben wie die Parkers.“ (QUELLE: Peter Niklas Wilson/Ulfert Goeman, Charlie Parker. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1988, S. 58)
  12. Als Miles Davis eine Aufnahme, an der Eric Dolphy beteiligt war, vorgespielt wurde, sagte er: „Das muss Eric Dolphy sein – niemand sonst könnte so schlecht klingen! Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihm auf den Fuß steigen. Schreib das ruhig. Ich finde ihn lächerlich. Er ist ein trauriger Motherfucker.“ (QUELLE: Leonard Feather, Blindfold Test mit Miles Davis, Zeitschrift Down Beat, Juni 1964, eigene Übersetzung)
  13. Lewis Porter: „Seine melodischen Linien wechselten oft die Richtung und sprangen unberechenbar.“ (QUELLE: Lewis Porter, John Coltrane, 1999, S. 193, eigene Übersetzung)
  14. in seinen späteren Aufnahmen wie seinem Album Out to Lunch (1964)
  15. John Litweiler: „Status Seeking, Fire Waltz und besonders The Prophet sind beeindruckende Dokumente des Sounds und der spontanen Kreativität seines Altsaxofonspiels. Reine Virtuosität von Ideen und Technik sind die Mittel seines Spiels, das eine herkömmliche Melodienstruktur völlig vermissen lässt.“ (QUELLE: John Litweiler, Das Prinzip Freiheit, 1988, S. 59)
  16. Der Musiker und Buchautor Brian Priestley meinte: „Im Gegensatz zu Parkers präzisem und straffem rhythmischen Mechanismus wirkte Dolphy wie ein Förderband, das zu schnell lief.“ (QUELLE: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestley, Rough Guide Jazz, deutschsprachige Ausgabe, 2004, S. 183)
  17. Mehr dazu im Artikel Unsichtbare Formen: Link
  18. Siehe folgende Stelle im Artikel Miles-Davis-Fusion: Link
  19. Der Jazz-Kritiker Joachim-Ernst Berendt stellte in der Jazz-Entwicklung der 1970er Jahre mehrere Trends fest, an erster Stelle die Jazz-Rock-Fusion und an zweiter eine „Tendenz zu europäisch-romantischer Kammermusik“, zu einer „Ästhetisierung“, zu unbegleiteten Solo- und Duo-Aufführungen, einen Verzicht auf eine Rhythmusgruppe sowie überhaupt auf vieles, „was bisher als unverzichtbares Kennzeichen des Jazz galt“. – Die deutsche Musikproduktionsfirma ECM habe eine „Konzeption und einen Sound“ entwickelt, die „für die Tendenz zu Ästhetisierung beispielhafte Bedeutung gewannen“. (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 57 und 70) – Der Jazz-Kritiker Ekkehard Jost stellte für die 1970er Jahre eine Stilrichtung fest, in der eine „wahre Melodienseligkeit in den Vordergrund“ trat, mit „Griffen in das Motiv- und Klangreservoir der abendländischen Musik des 19. Jahrhunderts“. Besonders deutlich werde das in „Soloaufnahmen von Pianisten wie Chick Corea und Keith Jarrett, in denen Wohlklang und romantisch-impressionistische Versonnenheit herrscht“ und eine „Art Salon-Debussy dargeboten“ werde. (QUELLE: Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 276)
  20. Joachim-Ernst Berendt, der Keith Jarretts Musik an sich schätzte, zu einem Konzert Jarretts in der Carnegie Hall im Jahr 1976: „Damit nur ja niemand seine hehren Inspirationen störe, hatte Jarrett vor Beginn der Musik seine Zuhörer gebeten, sich auszuhusten. Und genauso prätentiös wie diese Bitte wirkte die Musik. Da kamen die romantischen Klischees wie auf Stelzen einher. […] Kein Zweifel, Jarrett folgt dem Ideal einer reinen, bewegenden Schönheit […] Aber man kann dem Pfad der Schönheit bis an eine Grenze folgen, auf deren anderer Seite das liegt, was allgemein als Kitsch bezeichnet wird. [...] Es gibt in Jarretts Persönlichkeit und in seiner Musik jenes gottgleiche Gehabe gewisser spätromantischer Künstler, das Verehrung und Weihrauchstimmung dadurch fordert, dass es sich selbst verehrt. Man mag etwas Bayreuthisches darin sehen, und es ist paradox, ja erheiternd und komisch, wie dieses bayreuthische Element, durch die Realisationen eines Patric Chéreau, eines Pierre Boulez und anderer aus dem heutigen Bayreuth schon fast vertrieben, nun auf dem Umweg über einen der Jazzwelt entstammenden Musiker wieder zur Hintertür in die musikalische Szene hineinspaziert.“ (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt, Ein Fenster aus Jazz, 1977, S. 100)
  21. besonders durch populär gewordene skandinavische Musiker wie Jan Garbarek und das Esbjörn Svensson Trio; aber auch so unterschiedliche europäische Musiker wie Nils Petter Molvær, Tomasz Stańko und Gianluigi Trovesi tendieren stark zu Stimmungsmusik und/oder europäisch-klassischer Ästhetik
  22. Bezeichnend ist zum Beispiel folgende Darstellung in der Zeitschrift Die Welt: Keith Jarretts sehr erfolgreiches Solo-Album The Köln Concert (1975) sei „Pop-nah, singend in den Melodien, und doch auf höchstem technischen Niveau“, damit sei ein „neuer Jazz geboren“ worden, der „bald auf der ganzen Welt ECM-Jazz“ hieß und dazu eingeladen habe, „sich am Kamin in ein Fell zu kuscheln“. (QUELLE: Thomas Lindemann, Keith Jarrett nervt mit immer absurderen Allüren, Internetseite der Zeitschrift Die Welt, 13. Oktober 2009, Internet-Adresse: https://www.welt.de/kultur/article4831885/Keith-Jarrett-nervt-mit-immer-absurderen-Allueren.html)
  23. all das, was als Weltmusik oder World-Jazz bezeichnet wurde, bis hin etwa zu einer Art Flamenco-Jazz auf dem Kontrabass, andalusischen Anleihen auf der Bassklarinette und arabischer Wüstenstimmung in elektronischen Klangtapeten
  24. Mehr zur M-Base-Bewegung im Artikel M-Base: Link
  25. Mehr zu Steve Colemans Rhythmuskonzept im Artikel Steve Colemans Substrat: Link
  26. Mehr dazu im Artikel Steve Colemans tonale Strukturen: Link

 

 

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