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Der Tenor-Saxofonist Sonny Rollins sagte: „Ich bin einer, der sprachähnlich spielt. Meine Phrasierung und alles andere sind eher sprachähnlich als legato, obwohl ich auch gelegentlich gern legato spiele. Aber was ich spiele, ist sehr unorthodox, ungewöhnlich – manchmal ist es sehr perkussiv. Coleman Hawkins war so, besonders in seinen frühen Aufnahmen. Ganz früher klang er fast wie jemand, der spricht. Und Sie wissen ja, dass Coleman mein Idol war.“1) – Hawkins gilt als Begründer des expressiven Saxofonspiels2), sein Stil wurde zum Inbegriff der Ausdruckskraft des Saxofons im Jazz und der stimmähnliche Klang sowie der sprachähnliche Tonfall trugen dazu zweifelsohne wesentlich bei. Die von Hawkins in Gang gesetzte Entwicklung schöpfte jedoch nicht nur das klangliche Potential des Saxofons aus, sondern nutzte auch seine besondere Eignung für dichte, klare und damit komplexe melodische Linien. Während in Louis Armstrongs Tradition die Trompete noch eindeutig die führende Rolle innehatte, waren es ab den 1930er Jahren mehr die Saxofonisten, die die kunstvollsten und einflussreichsten „Geschichten erzählten“3), sodass das Saxofon seither mehr als jedes andere Instrument die Jazz-Improvisation symbolisiert. – Mitte der 1930er Jahre erhielt Hawkins starke Konkurrenz vom Tenor-Saxofonisten Lester Young, der sich im Stil deutlich absetzte, aber ebenfalls in einer sprechenden Weise spielte. Der Schlagzeuger Jo Jones, der mit ihm lange zusammenarbeitete, sagte: „Lester spielte eine Menge musikalischer Phrasen, die in Wirklichkeit Worte waren. Er konnte buchstäblich auf seinem Horn sprechen. Das ist seine Art von Gespräch. Ich könnte seine Gedanken auf Papier schreiben, aufgrund dessen, was ich aus seinem Horn höre.“4) Young war wie eine Reihe anderer Saxofonisten, die aus dem Mittleren Westen kamen, etwa Ben Webster, stark vom Blues geprägt5) und im Blues gingen Musik und Sprache seit jeher fließend ineinander über. Aus derselben Jazz-Szene kam etwas später der Alt-Saxofonist Charlie Parker, der die sprachähnlichen Spielweisen noch weiter verfeinerte und zu einer einzigartigen Kunst steigerte, ohne ihre kommunikative Kraft zu schmälern.
Steve Coleman wies unter anderem in seinem Artikel über Parker6) auf die Verbindungen zur Sprache in Parkers Spielweise hin und aus Colemans Erläuterungen lassen sich mehrere Gesichtspunkte der Sprachähnlichkeit gewinnen:
Parkers melodische Linien haben den Charakter von Sprachmelodien (bezüglich Rhythmik, Tonfall und Länge der Aussagen) und er spielte sie mit einem leichten Dehnen beziehungsweise Hinter-dem-Beat-Schleppen, wie es der unter Afro-Amerikanern üblichen Sprechweise mit Südstaaten-Akzent entspricht.7)
Sein Ausdruck ist vielfältig, plastisch und eindringlich wie lebendiges Sprechen, zum Beispiel wie ein Predigen8), wie ein Schwall aufgeregter Worte, ein schnelles, flüchtiges Flüstern9), eine Liebenserklärung.10)
Die sprachähnlichen Mitteilungen in Form melodischer Linien ergeben einen zusammenhängenden, logisch wirkenden Fluss wie eine Reihe verbaler Äußerungen in einer Erzählung oder einem Gespräch. Eddie Jefferson sang Charlie Parkers Stück Parker’s Mood einschließlich Parkers Solo mit einem Text versehen nach11) und das ergab eine Art melodiösen Sprechgesang. Hört man anschließend das von Parker selbst gespielte Solo, so wird deutlich, wie sehr dieser Charakter eines Sprechgesangs bereits in Parkers Melodielinien enthalten ist.
Anders als etwa Art Tatums fabelhaftes Klavierspiel war Parkers Improvisationskunst auf Dialog ausgerichtet12) und vor allem dem Schlagzeuger Max Roach gelang es, mit ihm in eine gesprächsartige Wechselbeziehung zu treten. Nach Steve Colemans Darstellung beantwortete Roach die melodischen Linien Parkers, indem er in Parkers Pausen Kommentare einfügte und Parkers Phrasen mit Abschlussfiguren unterstrich. Roach habe offensichtlich sogar Parkers Satzstrukturen vorhergesehen und die passenden Satzzeichen eingesetzt, so wie enge Freunde manchmal die Sätze des jeweils anderen in einem Gespräch zu Ende führen. Spielte Parker mit Begleitern, von denen er nicht viel an Rückmeldung erhielt, so habe er zumindest mit sich selbst einen Dialog geführt.13)
Zum Teil enthielt Parkers Spiel sogar wörtliche Bedeutungen, die von Kennern mitunter tatsächlich verstanden wurden. Steve Coleman führte ein gut nachvollziehbares Beispiel an, und zwar die Aussagen „perhaps“ in Parkers Komposition Perhaps (aufgenommen im September 1948): Die Eröffnungsphrase der Melodie sei eine Art Erklärung, gefolgt von „but perhaps“14), worauf die erste alternative Erklärung beginne. Dann leite ein weiteres „perhaps“15) eine zweite alternative Erklärung ein und mit noch einem „perhaps“16) beginne die endgültige Aufklärung. Schließlich ende die Melodie mit den Antworten: „perhaps, perhaps, perhaps“17). Die melodischen Abschnitte zwischen den „perhaps“ könne man somit als eine Art Diskussion und Aufklärung einer bestimmten Situation verstehen.18) Coleman kam bei der Analyse von Parkers Musik zum Schluss, dass Parker und andere Musiker es „todernst“ meinten, wenn sie vom Erzählen einer Geschichte durch ihre Musik sprachen.19) – Parkers Frau Chan erzählte, dass Parker (zumindest in seinen späteren Jahren) nach eigener Aussage Musik als Gespräch betrachtete und dass sie tatsächlich verstand, was er mit seinem Spiel sagte.20) – Der Bassist Charles Mingus berichtete über Auftritte mit Parkers Band Folgendes: In den Pausen habe er mit Parker oft lange, intensive Diskussionen über Gott und die Welt gehabt, für die die Pausen oft zu kurz waren. Parker habe ihn dann aufgefordert, die Diskussion auf dem Podium fortzusetzen, indem sie mit ihren Instrumenten sprechen. Später führte Mingus in seiner eigenen Band mit Eric Dolphy manchmal intensive musikalische Zwiegespräche, unter anderem im Stück What Love (1960)21), und behauptete, mit seinem Instrument (dem Kontrabass!) tatsächlich Sätze verständlich kommunizieren zu können, zumindest verständlich für Dolphy. Diese Behauptung wurde vom Alt-Saxofonisten Charles McPherson, der viele Jahre lang Mingus‘ Band angehörte, bestätigt.22) – John Coltranes Stück Psalm am Ende seines Albums A Love Supreme (1964) ist eine wortlose „Rezitation“ eines von ihm verfassten Gedichts23) und drei Stücke seines vorhergehenden Albums Crescent (1964) beruhten ebenfalls auf Gedichten24).
Parker versandte bei Auftritten häufig musikalisch verschlüsselte Botschaften, indem er Melodien bekannter Songs anspielte, aus deren Titel oder Text sich die bezweckte Mitteilung ergab. Zum Beispiel flocht er die Melodie des Lieds Over There in seine Improvisation ein, wenn er die Aufmerksamkeit von jemandem erhalten wollte, und Eingeweihte verstanden diesen Hinweis auch.25) – In folgendem Beispiel nutzte der Pianist Bud Powell diese Art von Kommunikationsmöglichkeit: In einer Live-Aufnahme26) ist zu hören, wie Parker während Powells Solo im Hintergrund spielt. Powell fühlte sich dadurch offensichtlich gestört und zitierte daraufhin die Melodie des Songs Clap Hands, Here Comes Charlie!27) als sarkastische Bemerkung.28)
Eine besondere Qualität Parkers Kunst besteht in einer Art Poetik seiner Spielweisen. Steve Coleman sah darin eine afro-amerikanische Vorliebe für gewisse Ausdrucksformen29) und wies auch auf Verbindungen zu Tanz und Sport hin30) sowie auf eine spezielle Wertschätzung für Geschmeidigkeit und Geschicklichkeit in der afrikanischen Diaspora31). Trotz der Komplexität seiner Musik soll Parker einem Bericht des Pianisten John Lewis zufolge die unterschiedlichsten Leute angezogen und mit seiner Musik verzauberte haben, Seeleute, Beamte, Arbeiter, Prostituierte, Drogenabhängige und so weiter.32)
Steve Coleman hatte nicht nur bei Parkers Aufnahmen seit jeher den Eindruck, dass Parker auf seinem Instrument „sprach“33), sondern erlebte auch im Spiel seines Mentors Von Freeman und bei anderen älteren Musikern eine solche sprachähnliche Qualität. Er sagte, er habe das immer gemocht, sei von Musikern angezogen worden, die eine eigene Sprache hervorbrachten34), und sei darauf versessen gewesen, das von den Älteren häufig erwähnte Erzählen einer Geschichte zu erforschen und in seiner Musik in expliziter Form zu entfalten. Nachdem er von einem Stamm in Ghana gelesen hatte, in dem ein Trommler die Geschichte seines Volkes allmorgendlich mithilfe einer Trommelsprache verkündete, reiste er dorthin, um es selbst zu sehen und die Funktionsweise dieser musikalischen Sprache verstehen zu lernen. Durch weitere Reisen, unter anderem nach Indien, versuchte er, mehr über musikalische Möglichkeiten des Vermittelns von Bedeutungsinhalten zu erfahren. Schließlich sah er sich in der Auffassung bestätigt, dass der Sprachcharakter der Spielweisen von Musikern wie Parker ein Relikt west-afrikanischer Traditionen ist.35) Eine Live-Aufnahme Parkers, die eine besonders intensive Kommunikation, einschließlich Reaktionen des Publikums, zeigt, beschrieb Coleman als weltliche ritualisierte Darbietung, die in ihren Grundzügen auf afrikanischem Erbe beruhe. Der Verfeinerungsgrad dieser Musik verlange sowohl den intellektuellen als auch emotionalen Einsatz der Musiker sowie auch der Hörer, soweit sie überhaupt in der Lage sind, in diese Musik zu gelangen.36)
Auch in der Jazz-Literatur wurde die Sprachnähe des Jazz auf west-afrikanische Kulturen zurückgeführt37), in denen das Sprechen in Form von Musik und eine musikalisierte Sprache ineinander übergingen. Sprachähnlichkeit ist zwar in vielen Musikarten der Erde zu finden, jedoch in sehr unterschiedlichem Maß38) und in bestimmten west-afrikanischen Traditionen in besonders intensiver Form sowie verknüpft mit hochentwickelter Rhythmik. Mangels Schrift erfolgte dort die gesamte Kommunikation durch Laute und Klänge. Wissen, Geschichten und Mythen wurden vor allem in Form von vielfach wiederholten Erzählungen, Liedern und Sprichwörtern bewahrt. Der ghanaische Musikwissenschaftler Joseph H. Kwabena Nketia erklärte: „Afrikanische Traditionen behandeln Gesänge so sorgfältig, als ob es sprachliche Äußerungen wären. Es gibt Stammesgesellschaften, in denen poetische Solorezitationen – gesprochene wie gesungene – das Ansehen von gesellschaftlichen Institutionen bekamen. […] Die Konvention vieler Stammesgesellschaften verlangt die Verbindung von Sprache und Gesang beim Geschichtenerzählen.“39) Aber eben auch Instrumente, vor allem Trommeln, konnten in west-afrikanischen Kulturen als sprachliches Ausdrucksmittel erhebliche Bedeutung haben.40) In welchem Maß von der Möglichkeit, mit Instrumenten zu sprechen, Gebrauch gemacht wurde, war zwischen Stämmen, Musikarten und Anlässen unterschiedlich. Doch hatten die meisten Dörfer der entsprechenden west-afrikanischen Regionen zumindest Signaltrommeln, mit denen sie Botschaften übermitteln konnten41), und selbst in modernen, auf westlichen Instrumenten gespielten Musikformen, zum Beispiel in Highlife-Musik, konnten instrumentale Spielweisen sprachliche Bedeutungen ausdrücken42). – Die Arbeitsgesänge und Spirituals der afro-amerikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren sowie der Blues klangen erheblich anders als afrikanische Musikarten, bewahrten jedoch den Schwerpunkt auf Sprachnähe und Rhythmus. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist die im Jahr 1934 von John A. Lomax gemachte Aufnahme The Man of Calvary, die einen Ausschnitt eines Ostergottesdienstes wiedergibt, den der Reverend Sin-Killer Griffin als Kaplan einer Strafanstalt für Afro-Amerikaner in Texas hielt. Als allgemeines Merkmal afro-amerikanischer Musik besteht dieser sprachliche und rhythmische Schwerpunkt bis in die Gegenwart fort, besonders in der Form des Rap, aber eben auch in den Spielweisen der Jazz-Improvisation. Im Übrigen soll bereits John Coltrane davon gesprochen haben, nach West-Afrika reisen zu wollen, um aus der dort kultivierten Verbindung von Sprache und Musik Anregungen zu gewinnen.43)
So beeindruckend die Fähigkeit von Musikern wie Parker ist, mit ihrem Spiel sprachliche Mitteilungen zu transportieren, so sind sie für Hörer wohl selten verständlich und auch wenig relevant. Mingus‘ Zwiegespräch mit Eric Dolphy in What Love verdrängt noch dazu völlig musikalische Qualitäten wie Melodik und Rhythmik, sodass diese instrumentalen Sprach-Imitationen zwar dramatisch, aber ziemlich kurios erscheinen. Coltranes Psalm ist durch die Stimmung berührend, enthält jedoch kaum nennenswerte melodische Linien, Rhythmen oder Harmonien. Bedeutung hat dieses Stück wohl nur als Abschlussteil der Suite, die das Album bildet, sowie als religiöses Bekenntnis, das Coltranes Schaffen in neuem Licht erscheinen ließ. Allerdings erkannte nicht einmal der an der Aufnahme beteiligte Schlagzeuger Elvin Jones, dass Coltrane mit seinem Spiel einen Text rezitierte, und es blieb auch danach lange Zeit außerhalb von Musikerkreisen unbemerkt.44) Außerdem ist das rezitierte Gedicht mit seinem Glaubensbekenntnis für sich allein keineswegs ein Werk, das aufgrund poetischer Qualität oder besonderer Einsichten beachtenswert wäre.
Konkrete sprachliche Inhalte von instrumentalen Improvisationen sind im Jazz-Kontext für Hörer wohl kaum bedeutend. Doch verleiht die Sprachnähe den Improvisationen eine natürliche, eindringliche Wirkung und Hörer mit entsprechender Empfänglichkeit wollen auf ausdrucksstarke Weise angesprochen werden, wie die beiden folgenden Beispiele vor Augen führen:
Der deutsche Jazz-Autor Ekkehard Jost erzählte, dass er in seiner Studienzeit (um 1960) Mitglied einer Jazz-Band war, die in einem Hamburger Lokal spielte. Dorthin kamen öfters afro-amerikanische Matrosen der großen Passagierdampfer, die zwischen Europa und Amerika verkehrten. Die Band spielte dann vor allem für diese „Schar schwarzer Heizer und Maschinisten, die sich […] im Halbkreis vor dem Bandstand aufgereiht hatten, auf Zwei und Vier mit den Fingern schnipsten oder in die Hände klatschten, tanzten und shouteten: ‚Yeah man! – Talk to me!‘ und ‚Give me the message!‘.“ Jost sagte, er habe „diese Grunderfahrung afro-amerikanischen Rezeptionsverhaltens nie vergessen. […] Jazz-Spielen bedeutete hier offenbar mehr als das spontane Erfinden einiger hübscher Melodien über einigen interessanten Changes, angetrieben durch einen möglichst zwingenden Rhythmus. Jazz-Spielen bedeutete Sprechen, etwas Erzählen, eine Botschaft vermitteln.“45)
Der 1961 in New Orleans geborene und dort aufgewachsene afro-amerikanische Trompeter Wynton Marsalis erzählte über seinen Jazz spielenden Vater und dessen Musikerfreunde: Diese „Jungs hörten Sachen wie Alfie’s Theme von Sonny Rollins, bei dem jemand sieben oder acht Minuten lang allen möglichen Saxofon-Zauber veranstaltet. Sie hörten so genau hin, als würde das Orakel von Delphi zu ihnen sprechen, und kommentierten: Erzähl deine Geschichte und so weiter. An bestimmten Stellen in der Musik wurden die Mh-hmms zu Oooooh oder Jaaa! – ekstatische Ausbrüche, wie sie manche Leute in der Kirche haben. Sie reagierten auf Sonny, als stünde er direkt vor ihnen im Zimmer […].“46)
Aber es war natürlich nicht nur die Sprachnähe und kommunikative Kraft, was die Begeisterung für die Improvisationen von Meistern wie Rollins auslöste:
Nach Steve Colemans Erläuterung entwickelte sich Charlie Parker als junger Musiker in einer Zeit, in der die auf dem Blues beruhenden Spielweisen bereits von älteren Meistern zur Vollendung gebracht wurden. Parker strebte jedoch nach einem noch stärker verfeinerten, abstrakteren Ausdruck, ohne das Feeling und die Geschichtenerzähl-Funktion des Blues aufzugeben, und er wurde damit zur Schlüsselfigur einer besonders kunstvollen Form der Jazz-Improvisation47):
Ein hochentwickeltes harmonisches Verständnis hatten einige Musiker, besonders Pianisten, schon vor Parkers Erscheinen und der Pianist Art Tatum wurde in dieser Hinsicht von Parker auch nicht übertroffen.48) Ein Musiker wie Tatum entfaltete seine Kunst primär aus diesem harmonischen, auf Akkordstrukturen bezogenen Verständnis heraus. Auch spätere Musiker, die Parkers Vorbild zu folgen versuchten, konzentrierten sich im Allgemeinen auf harmonische Aspekte. Sie verstanden seinen Stil weitgehend als Hindurchspielen durch wechselnde Akkorde. Parker hingegen war in erster Linie ein melodischer Spieler. Er kannte natürlich ebenfalls die Akkordstrukturen und stellte sein Spiel auf sie ab, doch drückte er sich in Form sehr melodischer, komplexer und expressiver, stimmähnlicher Phrasen aus.49) Damit bildete er „unsichtbare Pfade“, wie Steve Coleman sie nannte, „dynamische Straßen“, die zu denselben tonalen50) und rhythmischen Punkten führten wie die komponierte Harmonie. Das weicht nach Colemans Erläuterungen vom „akademischen Konzept der Substitutions-Akkorde ab, denn diese unsichtbaren Pfade können völlig alternative Straßen sein, die nicht notwendigerweise mit der komponierten Harmonie auf einer Punkt-für-Punkt-Basis verbunden sind und sich widersetzen, als solche gedeutet zu werden.“51) Während die meisten heutigen Musiker mit Parkers Grad an Technik es als notwendig empfinden würden, der Harmonie explizit zu folgen, sei Parker somit in der Lage gewesen, den harmonischen Verlauf einfach mit der Gestalt seiner Melodielinie anzudeuten. Dabei habe er ein gut entwickeltes Gespür für das rhythmische Platzieren jener Töne gezeigt, die den Bezug zum harmonischen Verlauf der Komposition herstellen. Bei Parker würden an erster Stelle die melodische Kontur und der Weg bestimmen, nicht die Töne des jeweiligen Akkords.52)
Nach Colemans Erfahrung haben zum Beispiel viele Musiker noch heute keine Vorstellung, was in Parkers Improvisationen der Live-Aufnahme des Stücks Ko-Ko (1948) abläuft. Sieht man sich Parkers Linien sehr genau an, dann könne man in ihnen eine Logik erkennen. Es gebe mehrere Arten sie zu interpretieren, doch manche Interpretationen seien überzeugender als andere – in Bezug darauf, wohin die melodischen Linien führen. Eine offene monophone (einstimmige) melodische Linie könne in harmonischer Hinsicht alles andeuten und daher musikalisch sehr tiefgehend sein. Coleman sprach daher von einer „monophonen Wissenschaft“, die letztlich darin bestehe, herauszufinden, wie man von einem Ort zum anderen gelangt. Bleibt ein Improvisator nicht auf die Akkorde fixiert, sondern bildet er in der vielfältigen Art Parkers eigene melodische Pfade, so erhalte er einen viel fließenderen Sound.53)
Mehr dazu: Steve Coleman über monophone Wissenschaft
Parker setzte seine melodischen Pfade aus Einzelteilen zusammen, die nach Steve Colemans Erläuterungen Melodien in Miniaturform darstellen und bereits in sich ausbalanciert sind. Diese Teile verwob er mithilfe kurzer Phrasen als Verbindungsglieder zu komplizierten Linien, und zwar mit „unheimlicher“ Geschicklichkeit, erstaunlichem Gespür für Balance und außerordentlichem Sinn für das Wesen einer Melodie.54) Er war ein Meister der intuitiven Form55) und das dramatischste Merkmal seiner musikalischen Sprache ist die Rhythmik seiner melodischen Linien56). Und zwar ist nicht nur seine Phrasierung bestechend, sondern besonders auch sein „Platzieren ganzer musikalischer Sätze und wie diese einander ausbalancieren“57) sowie seine Meisterschaft „im Verschieben der Balance seiner musikalischen Sätze“58). In schnellen Stücken neigte Parker dazu, „mit Ausstößen von Sätzen zu spielen, die mit kurzen internen Gruppierungen unter Verwendung scharfer Akzente interpunktiert59) sind“.60) Offenbar hatte er die melodischen und rhythmischen Zielpunkte genau im Auge und wählte die Start- und Endpunkte seiner Phrasen und Sätze so geschickt, dass sie selbst dann, wenn sie an scheinbar seltsamen Stellen begannen, exakt passten.61) Aufgrund eines verblüffenden Zeitgefühls war Parker laut Coleman in der Lage, nach den ungeheuerlichsten rhythmischen Phrasen wie eine Katze auf seinen Füßen zu landen, so geschmeidig, dass sich die Phrasen in keinerlei Weise seltsam anfühlen. Oft quetschte er eine rasante Phrase in einen kürzeren Zeitraum, sodass ein Schwall rasch aufeinander folgender Töne entstand. Bei diesem „Vollstopfen“ (Cramming), wie Dizzy Gillespie es nannte, war das Tempo von Parkers Spiel oft nicht einfach ein Vielfaches des Beats, sondern stand in einem ungewöhnlichen Verhältnis zum Tempo der Rhythmusgruppe. Dennoch fügen sich auch diese melodischen Ausbrüche organisch in den Gesamtverlauf der Musik ein.62) – Nach Steve Colemans Einschätzung war Parker um 1948/1949 in seiner kreativsten und beständigsten Phase. Die Bauelemente seiner Improvisationsweise waren damals „total internalisiert und zur zweiten Natur geworden“ und sein „Markenzeichen-Gespür für melodische und rhythmische Symmetrie“ war selbst in seinen experimentellsten Streifzügen evident.63)
Die von Parker zu voller Blüte gebrachte Kunst der Gestaltung eleganter, komplexer, schillernder Melodielinien wurde von späteren Meistern wie Rollins, Coltrane und Steve Coleman in jeweils eigener Weise weitergeführt.64) Coleman sagte: Die große Stärke der klassischen europäischen Orchestermusik bestehe in ihren vielen musikalischen Farben. Die Melodie sei weniger ihre Sache gewesen. Natürlich habe sie Melodie und all das gehabt, doch sei ihre Melodik nicht so komplex und hochentwickelt gewesen wie das, was Coltrane, Rollins und so weiter machten. Diese Musiker hätten sich fast zur Gänze auf die monophone Erfindung konzentriert und sie so großartig entwickelt, dass sie allein mit ihr das Interesse eines Hörers aufrechthalten konnten, und zwar ohne Harmonisierung.65) – Abgesehen von der Raffinesse ihres melodischen Spiels wirkt es zweifelsohne auch deshalb so ansprechend, weil es aufgrund der Einstimmigkeit einer Volksmusik nahe ist66) und über den klanglichen Ausdrucksreichtum des Sprechens verfügt.
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