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Wie die Sprache stehen auch die Rhythmen, Melodien und Harmonien der Musik nicht still, sondern verlaufen in der Zeit und sie folgen ähnlich wie die Sprache gewissen Mustern, sodass ein Hörer, der mit ihnen vertraut ist, in der Musik Struktur und damit Sinn erkennen kann.1) Die Jazz-Improvisation ist besonders eng mit der Sprache verbunden, und zwar schon dadurch, dass sie anscheinend dieselbe menschliche Fähigkeit nutzt wie das freie, spontane Sprechen, bei dem Vokabeln, Phrasen, Satzkonstruktionen und grammatischen Regeln automatisch gehandhabt werden, während die Gedanken überwiegend darauf gerichtet sind, was man sagen möchte. Bei einem guten Gespräch können Worte und Wendungen besonders leicht aus einem herausfließen und auch Ideen, also Teile des Inhalts der Aussagen, überraschend auftauchen. Jazz-Musiker berichteten von vergleichbaren Erfahrungen und sprachen öfters von einem Spielen im „Bewusstseinsstrom“.
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Voraussetzung für die spontane musikalische Gestaltung ist die fließende Beherrschung einer Art musikalischen „Sprache“, das heißt ein sicheres Verfügen über Möglichkeiten, „von einem Ton zum nächsten zu gelangen“2), melodische Linien, rhythmische Figuren und Harmonien zu bilden und den Tönen Ausdruck zu verleihen. Die persönliche „Sprache“ eines Musikers muss einer Art Syntax haben, die ein improvisiertes Zusammenspiel der Band ermöglicht sowie eine einheitliche Gesamtwirkung ihrer Musik gewährleistet. Steve Coleman erklärte, er und seine Bandmitglieder würden rhythmischen, harmonischen und melodischen Pfaden folgen, die bereits angelegt und bewährt sind und viele Wahlmöglichkeiten bieten, in welche Richtung man gehen will. Es sei wie eine Sprache. Man verwende schon oft benutzte Worte und Phrasen, aber man sage mit ihnen etwas, das man noch nie, zumindest nicht in genau derselben Weise, gesagt hat. Was man sagt, hänge von den momentanen Gefühlen und den Gedanken ab, die auftauchen. So treffe man spontane Entscheidungen, aber auf der Basis von Vorbereitung. Bei dieser Art zu spielen könne man sich selbst überraschen, obwohl einem das Material vertraut ist. Er übe, Dinge hervorzubringen, die er noch nie gespielt hat, und mache das auch im Konzert. Er riskiere also in seinem Spiel etwas. Das mache er laufend und nach einiger Zeit werde es einem zur zweiten Natur.3)
Die musikalische Sprache der verschiedenen Musiker und Bands kann so unterschiedlich sein wie das Sprechen, das ein breites Spektrum umfasst, von urwüchsigen Lautäußerungen bis zu komplexen Satzkonstruktionen mit reichem Vokabular, von langsamem, bedachtsamem Wählen jedes einzelnen Wortes bis zu einem überschäumenden Redefluss, von nichtssagendem Gerede bis zu tief berührenden und erhebenden Aussagen, von langen, ausführlichen bis zu kurzen, prägnanten Schilderungen, von sperrigen, akademischen Konstruktionen bis zu ansprechender Lebendigkeit, von poetischem Stil bis zu kargem Gestammel und so weiter. – So kann auch eine Improvisation auf einer relativ einfachen „Sprache“ beruhen und zum Beispiel Klangfarben in den Vordergrund stellen, etwa die eindringlichen, stimmähnlichen Laute eines schmachtenden oder schreienden Saxofons. Möchte ein Improvisator seine Töne möglichst bewusst wählen, dann wird sein Spiel sparsam und bedächtig verlaufen.4) Will er die Raffinesse und Dichte der großen Meister erreichen, so muss er eine komplexe „Sprache“ mit großem „Vokabular“ und anspruchsvoller „Grammatik“ traumwandlerisch beherrschen.
Meisterimprovisatoren haben nach Steve Colemans Beschreibung wie versierte Kampfsportler5) die „verschiedenen Pfade der Möglichkeiten studiert, ausgearbeitet, analysiert und verinnerlicht, sodass der Geist und der Körper schließlich darin trainiert sind, auf die dynamischen Konfigurationen, die sich in der Realität ergeben, reflexartig zu antworten. Die Kunstfertigkeit zeigt sich, wenn sich die Muster unerwartet verändern und ein anderer Fluss aufgebaut wird. Der [Improvisator6)] muss dann den Wechsel timen und die Antwortmuster mitten im Flug anpassen. Natürlich wird ohne intensive Einsicht, Erforschung und Training nichts davon zustande kommen und das grundlegende Erkennen dieser Dynamiken ist entscheidend für das Wissen, wie man sich vorbereitet und trainiert.“7)
Wenn Musiker ihre musikalische Sprache reflexhaft beherrschen, sind sie frei, sich auf andere Aspekte zu konzentrieren oder die Improvisation einfach fließen zu lassen8). Steve Coleman schrieb: „Bei Musikern wie [Charlie] Parker und [Max] Roach ist alles auf einer Reflex-Ebene internalisiert. Da diese Musik ein sich rasant bewegender Sound ist, der einigermaßen spontan geschaffen wird, glaube ich, dass die vordergründige mentale Aktivität hauptsächlich auf der semantischen9) Ebene des Verstandes abläuft, während die internalisierten, vereinbarten syntaktischen10) musikalischen Formationen von anderen, mehr automatisierten Prozessen gehandhabt werden.“11) Zu seiner eigenen Spielweise erklärte Coleman: Er verwende Zurechtgelegtes erst, wenn er es internalisiert hat, sodass er sich auch ohne Nachdenken in entsprechender Weise musikalisch bewegen kann. Dafür sei langes, intensives Training erforderlich. Musiker wie Sonny Stitt, Sonny Rollins und all die anderen hätten es genauso gemacht. Beim Improvisieren habe er dann lediglich einen groben, flexiblen Plan, während sein Körper den Rest erledige. Alles, was er jemals ausarbeitete, fließe spontan ein und er füge einfach Ebene um Ebene hinzu. Die lange, intensive Internalisierung bringe es mit sich, dass die sich ergebenden Melodien für ihn natürlich klingen.12)
Steve Coleman sagte: „Es liegt eine bestimmte Art von Rhythmus in der Art, wie ich spreche. Darum erkennen mich meine Freunde sofort, wenn ich anrufe – an meinem Ton, meinem Rhythmus, an bestimmten Phrasen, die ich immer verwende. Genauso erkenne ich Charlie Parkers Spiel. Auf die gleiche Weise. Und genauso denke ich über Phrasen und die Art und Weise, wie sie sich aufeinander beziehen.“13) Die Entwicklung einer eigenen Spielweise, die den Improvisationen der Solisten einen persönlichen Charakter verleiht und sie dadurch für Kenner identifizierbar macht, hat in der Jazz-Tradition seit jeher einen hohen Stellenwert. Im afro-amerikanischen Viertel South-Side von Chicago, in dem Steve Coleman aufwuchs, forderten ältere Meister junge Musiker auf: „Finde deinen eigenen Sound!“, „Finde heraus, was du sagen willst!“, „Was ist deine Geschichte?“. Coleman erzählte: Da die Meister alle „ziemlich einzigartig klangen, interpretierte ich das so, dass ich musikalisch meinen eigenen Weg finden muss, um das zu sagen, was ich sagen möchte. In anderen Worten: Ich muss meine eigene musikalische Sprache finden, um meine Geschichte in meiner eigenen Art zu erzählen. So begann die Suche, noch bevor ich irgendetwas auch nur halbwegs gut spielen konnte. Das bedeutete, dass ich die Grundlagen der Musik lernte und gleichzeitig herausfand, was ich sagen möchte und wie ich es sagen möchte, indem ich Musik als meine Sprache verwende.“14) Wie angehende Musiker zu einer eigenen „Sprache“ finden können und was mit dem bildhaften Ausdruck des Geschichtenerzählens gemeint ist, erklärten die Meister nicht15), denn das sollten die Jungen offenbar durch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit musikalischen Möglichkeiten16), dem Wesen der Musikkultur sowie mit dem eigenen Anliegen, einen Beitrag zu leisten, selbst herausfinden.
Bereits in früheren Zeiten ahmten jedoch viele Musiker lediglich ihre Vorbilder nach und in neuerer Zeit ersetzt der weit verbreitete institutionalisierte Jazz-Unterricht häufig ein tiefgehendes Erforschen, Selbsterfahren und eigenständiges Entwickeln.17) Die Mehrheit der Musiker gelangt kaum darüber hinaus, Spielweisen von Vorgängern wiederzugeben, zum Beispiel eine als Bebop verstandene Sammlung von Phrasen Parkers und anderer Musiker der damaligen Zeit oder eine Mischung verschiedener Stile der Vergangenheit. Ihre unzähligen Nachahmungen erschweren es Hörern, die „Geschichten“ der Meister in ihrer Originalität zu erkennen.
Steve Coleman wies darauf hin, dass die komplexe musikalische Sprache, die Charlie Parker entwickelte und wie im Schlaf beherrschte, ein ziemlich hohes Basis-Niveau seiner Improvisationen gewährleistete, selbst wenn er in schlechter Verfassung war, was aufgrund seiner Drogensucht häufig vorkam. In einem inspirierten Zustand sei Parker über dieses Niveau dann noch weit hinausgegangen. Auch bei Sonny Stitt beobachte Coleman das.18) – John Coltrane sagte im Jahr 1962 hingegen: Wenn er in einem Solo fühlt, dass er bloß Noten spielt, etwa den Rhythmus nicht fühlt oder nicht in bester Verfassung ist, dann versuche er, die Dinge zu dem Punkt hin zu entwickeln, wo diese Inspiration wieder passiert, wo die Dinge spontan sind, nicht vorgefasst. Wenn dieser Punkt wieder erreicht wird, fühle er, dass es weitergehen kann, dass es wieder lebendig ist. Aber wenn das nicht passiert, dann gebe er einfach auf und scheide aus.19)
Selbst bei so großartigen Improvisatoren wie Coltrane schwankt nun einmal der Grad der Inspiration, obwohl sie beharrlich nach ihr streben. Sonny Rollins erläuterte: „Die spontane Improvisation ist das Wesentliche. Es gibt große Komponisten und Arrangeure im Jazz, doch das spontane Solo auf höchstem Niveau ohne Klischees, das versuche ich zu schaffen, auch wenn ich es nicht immer erreiche. Die Kommunikation läuft unterbewusst und die Musik kann zu etwas ganz Eigenem werden. Das ist der höchste Aspekt des Jazz für mich.“20) – Manchmal gelangen die Meister zu magischen Höhepunkten. Von Freeman berichtete: „Es gibt natürlich Abende, an denen du nach deinem Urteil und nach dem deiner Mitmusiker etwas zustande bringst, was du sonst vielleicht nur alle zwei oder drei Jahre einmal schaffst. […] Auf dieses hohe Niveau kommt man nur sehr selten. Und dann ist es so, als ob es von ganz alleine kommt. Dann hast du gar nicht den Eindruck, dass du ein Instrument spielst. Dann ist es so, als ob jemand anderes auf dir spielt. Vielleicht irgendeine schöpferische Kraft, was auch immer. […] Siehst du, und das versetzt einen immer wieder in Erstaunen. Das hält einen bei der Sache. […] Und wenn man älter wird, dann sieht man, dass die wirkliche Kreativität nur hin und wieder passiert.“21) – Bereits als 10- oder 11-jähriger Zuhörer erlebte Freeman Jazz mit einer spirituellen Dimension, und zwar in einem Friseurladen, in dem er mit Gleichaltrigen abends nach Ladenschluss öfters zwei Musikern zusah, die stundenlang miteinander spielten: „Shorts konnte wirklich Trompete spielen! Curtis saß am Schlagzeug. Sonst spielte keiner mit, nur Schlagzeug und Trompete. […] in diesem Friseurladen war sonst niemand. Shorts saß auf einem dieser Friseurstühle und blies Trompete und Curtis spielte Schlagzeug dazu. Und wir saßen da und hörten zu. […] Das brachte mich dazu, darüber nachzudenken, welch eine unheimliche Sache doch die Musik ist.“ Obwohl Freeman noch ein Kind war, hatte er den Eindruck, dass „die Vibrationen genau richtig waren und dass die Musik unheimlich wahr war. […] Ich kann mich heute an nur sehr wenige Situationen erinnern, bei denen ich so etwas erlebt habe; vielleicht das eine oder andere Mal bei ein paar ganz großen Leuten. Und ich glaube, dass es diese Momente sind, die die Musik so universal und so groß machen.“ Es sei etwas, das „von irgendwoher kommt und irgendwohin geht. Und es macht dich wissend! Es ist so ähnlich, als wenn du Gott gesehen hast.“ Er benutze dafür immer das Wort „Magie“.22)
Im Jazz bildet meistens ein komponierter Teil (ein „Thema“) den Ausgangspunkt, wiederkehrenden Bezugs- und Endpunkt eines Stückes. Die Grundstruktur der Komposition dient in der Regel als Basis der Improvisation und kann aus einer Abfolge von Akkorden, Tonleitern, Orgelpunkten, rhythmischen Figuren oder melodischen Ostinati bestehen. Auf diese Basis müssen die Improvisationen abgestimmt sein, damit sie nicht falsch klingen. Eine einfache Grundstruktur erleichtert den Solisten das Improvisieren, eine komplizierte reizt die Meister, ihre Kunst zu entfalten. So forderten sich Improvisatoren wie Parker, Coltrane und Steve Coleman mit anspruchsvollen Strukturen heraus und bestachen im Umgang mit ihnen durch äußerst gewandtes, kreatives und detailreiches Spiel.23) Diese Kunst beruht nicht nur auf der Entwicklung und Internalisierung einer komplexen musikalischen Sprache, sondern auch auf langem Training in der spontanen kreativen Gestaltung:
Steve Coleman erzählte, dass der Pianist Cecil Taylor einmal einen jungen Musiker fragte, was er übe, und der antwortete: die üblichen Dinge, Tonleitern, Arpeggien und so weiter. Taylor fragte ihn daraufhin, ob es das ist, was er dann bei einem Auftritt spielen will. Der junge Musiker verneinte natürlich, worauf ihn Taylor fragte, warum er es dann übe. Coleman sagte, die meisten Studenten würden das für eine tolle Geschichte halten, dann aber weiter wie bisher üben. Es gehe nicht darum, nie Tonleitern, Arpeggien, Patterns und so weiter zu üben. Jeder habe ausgearbeitete Teile in seinem Spiel, doch müsse ein Improvisator zu einem großen Teil das üben, was er dann auf der Bühne zu tun beabsichtigt, nämlich spontan gestalten. Darauf hätten Cecil Taylor, Von Freeman, Joe Henderson und andere hingewiesen und ihr Spiel sei zu einem wesentlich größeren Prozentsatz spontan gewesen als das der meisten Musiker, besonders jener, die heute aus den Jazz-Schulen kommen. Man müsse versuchen, Ideen auf der Stelle zu spielen. Gelingt es einem nicht, die Idee exakt umzusetzen, gehe man nicht zurück, um es zu verbessern und einzuüben, sondern einfach weiter. Etwas immer wieder zu üben, bis es perfekt ist, sei ein anderer Zugang, nämlich der der klassischen europäischen Musik. Übt man hingegen spontanes Spielen lange, so könne man dahin gelangen, dass man nicht mehr nur improvisiert, sondern wirklich spontan komponiert, was allerdings am schwierigsten sei. Der Begriff „Improvisieren“ schließe Zufälligkeit und Unvorbereitet-Sein mit ein, während spontanes Komponieren dem Schreiben von Kompositionen entspreche, nur dass es spontan erfolgt. Von Freeman, Colemans Mentor in jungen Jahren, habe gesagt, es gehe ihm darum, eine Idee im Kopf zu hören, die er nie zuvor gespielt hat, und sie dann genau auf die Weise aus seinem Saxofon zu bringen, wie er sie im Kopf hat, auf der Stelle, ohne sie eingeübt zu haben. Freeman und andere Musiker in Chicago, die wenig bekannt sind, hätten auf sehr präzise Weise gespielt, und zwar spontan. Die meisten Musiker würden hingegen nicht eine Idee im Kopf hören und sie dann ausdrücken, sondern Licks24), Linien und Patterns25) spielen, die sie eingeübt haben.26)
Besonders fesselnd kann spontanes Spiel sein, wenn es ein wenig riskant ist und der Improvisator problematische Situationen, die sich überraschend ergeben, gewandt auflöst. Steve Coleman erläuterte zum Beispiel zu einer Live-Aufnahme Parkers: Sofort sei offensichtlich, dass Parker auf der Spitze seiner Spielfähigkeiten war, und er habe auf sehr lockere Weise Freiräume genutzt. An einer Stelle sei er offensichtlich beim Spielen der Melodie des Stückes ein wenig gestrauchelt, worauf er Mitten im Strom wie der Basketballmeister Michael Jordan reagierte und sein Straucheln in ein schönes melodisches Statement verwandelte, das er formvollendet in sein Solo integrierte.27)
Im Jahr 2014 nahm Coleman das Album Synovial Joints auf, das komplizierte Kompositionen für ein großes Ensemble enthält, und erklärte, dass er diese Kompositionen, wie auch bereits die seines vorhergehenden Albums Functional Arrhythmias (2012), gänzlich auf improvisatorische Weise erarbeitete, und zwar ohne jede nachträgliche Verbesserung der Improvisationen. Manche glaubten ihm das nicht, da die Kompositionen zu perfekt erschienen. Doch erklärte Coleman, dass diese Fähigkeit eben das Ergebnis einer viele Jahre langen Übung in möglichst präzisem spontanem Komponieren ist. Auch schon Musiker wie Charlie Parker hätten auf so präzise Weise gespielt, dass ihre Improvisationen nicht bloß wie Kompositionen, sondern tatsächlich Kompositionen sind. Darauf habe bereits Charles Mingus in Bezug auf Bud Powell und Parker hingewiesen. Wie Freeman arbeite er (Coleman) selbst vor allem daran, Ideen, die in seinem inneren Ohr auftauchen, exakt umzusetzen. Das sei wie sprechen. Parker, Freeman, all diese Musiker hätten gesagt, dass sie zu spielen versuchen, wie sie sprechen. Das hätten sie gemeint.28) – Im Album Morphogenesis (2017) führte Coleman seine Methode der spontanen Komposition in sehr verfeinerter Weise weiter und er erklärte, dass er bei dieser Methode der spontanen Gestaltung die Themen, Bewegungen oder Konzepte, die er kommunizieren möchte, visualisiere.29)
Echte spontane Komposition war zu Steve Colemans zentralem Anliegen geworden. Er erklärte: So großartig einige vorkomponierte Kompositionen in dieser Musikart auch sind, so lerne er doch am meisten von den spontanen Kompositionen, womit er die Improvisationen meine. Aber er meine nicht alle Improvisationen, sondern jene, die auf dem Niveau der spezifischen Komposition sind, und die seien in der Minderheit. Die Mehrheit der Improvisationen, die man hört, seien ein beliebiges Umherstreifen oder ein Meer aus ausgearbeiteten Mustern oder irgendeine Kombination aus beidem. Das entspreche dem Verständnis anderer Musiker und Hörer von dieser Musikart. Er glaube hingegen, dass das Herzstück dieser Musikart die echte spontane Komposition ist, und er gebe sein Bestes, um sich auf die Arbeit an diesem Aspekt zu konzentrieren. Er arbeite an diesem Aspekt mehr als an jedem anderen. Für ihn gehe es nicht um trickreiche Kompositionsformeln. Für ihn sei das wirklich eine spontane Musik. Duke Ellington habe gesagt, dass er die meisten seiner Ideen von den Solisten erhielt. – Echte spontane Komposition schließe kein Überarbeiten ein. Alles werde im Moment gemacht, nur einmal aufgeführt und selbst, wenn es niedergeschrieben wird, werde es nicht überarbeitet. Die meisten Musiker würden nicht im geistigen Ohr „hören“, was sie gleich spielen werden. Er wisse das aufgrund langjähriger Erfahrung. Die meisten Instrumentalisten würden hauptsächlich eine tastende Sache machen.30) Natürlich hätten auch Charlie Parker, Coltrane, Rollins wie jeder gute Spieler einiges gehabt, was sie ausgearbeitet hatten, eine Art musikalische Sprache. Diese Musiker hätten sogar ein riesiges Vokabular gehabt, aber auch sehr präzise spontane Ideen hören und sofort spielen können.31)
Anfang der 1980er Jahren spielte Coleman als junger Saxofonist in einer Bigband Cecil Taylors, die für eine Serie wöchentlicher Konzerte in einem New Yorker Jazz-Klub engagiert war. Die Proben für diese Auftritte dauerten extrem lange, denn Taylor legte den Bandmitgliedern keine Notenblätter vor, sondern spielte jedem einzelnen Musiker seinen Part auf dem Klavier vor, bis der Betreffende ihn mit seinem Gehör erfasst hatte.32) Coleman fand das zunächst skurril, war dann jedoch beeindruckt, wie sehr sich diese Methode im Konzert bewährte, und er nahm sich vor, sie später einmal als Bandleader selbst einzusetzen. Anfang der 1990er Jahre entwickelte er aus diesem Ansatz sein Konzept der „kollektiven Meditation“. Es bestand darin, dass er mit seiner Band in einem Konzert spontan eine Komposition aufbaute, indem er einem Bandkollegen nach dem anderen dessen jeweiligen Part vorspielte oder vorsang, bis der ihn mit dem Gehör erfasste und übernahm, sodass Part um Part hinzugefügt wurde und das neue Stück wuchs. Zum Teil verwendete Coleman dafür bereits zuvor ausgedachte rhythmisch-melodische Figuren, jedenfalls aber in neuer, spontan gewählter Kombination. In den 2000er Jahren begann er, ganze Konzerte33) in nicht vorbestimmter Weise zu entwickeln, wobei er großteils bewährte Bauteile aus früheren Kompositionen verwendete.34)
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